Der entgrenzte Mensch
Menschen ab. Die Art der Gefühle hat dabei nichts mit bestimmten Bewertungen zu tun. Ein Liebesgefühl ist nicht wertvoller als ein Wutaffekt. Auch die Art der Gefühle ist also völlig selbstbestimmt und niemand hat
das Recht zu sagen, wie man sich richtig und gut oder wann man sich schlecht zu fühlen hat.
So entschieden man sich gegen eine Wertung von Gefühlszuständen in gute und schlechte, destruktive und konstruktive, realitätsgerechte und illusionäre, gesunde und pathologische zur Wehr setzt, so hat die Attraktivität inszenierter Gefühle bei näherem Hinsehen dennoch mit einer Selektion und Wertung zu tun, die sich aus unterschiedlichen Motivationen für die Bevorzugung inszenierter Gefühle ergibt. Was generell über die Attraktivität inszenierter Wirklichkeit gesagt werden kann, gilt verstärkt für das selbstbestimmte Gefühlserleben mit Hilfe der Inszenierung von Gefühlen: Neben dem kreativen Motiv, nämlich der Lust daran, Wirklichkeit neu und anders schaffen zu können, gibt es auch das Motiv, aus einer unerträglich erscheinenden Realität fliehen zu wollen sowie den Wunsch, Bedürfnisse und Strebungen zulassen und ausleben zu können, die sonst tabu sind (vgl. oben den Abschnitt »Inszenierung entgrenzter Wirklichkeit«).
Attraktiv sind also immer die Inszenierung und das Mitfühlen von ganz anderen Gefühlen, auch solchen, die man bei sich nicht zulassen kann oder mit denen man einer bestimmten eigenen Gefühlswahrnehmung entkommen möchte. Um dies noch zu verdeutlichen: Da entgrenzte Menschen grundsätzlich alle eigenen Gefühle als Grenzen wahrnehmen müssen, die es zu beseitigen oder zu verleugnen gilt, suchen sie in den Gefühlsinszenierungen nicht nur die gesellschaftlich tabuisierten Gefühle aus- und miterleben zu können - etwa solche, die Destruktivität und Gewalt verherrlichen -, sondern auch Gefühle von Anhänglichkeit, Angewiesensein, Treue, Dankbarkeit, Gefühle von schlechtem Gewissen, Reuegefühle oder gar Impulse, etwas wiedergutmachen oder sich entschuldigen zu wollen. Was für entgrenzte Menschen »nie im Leben« an eigenen Gefühlen möglich wäre, das suchen sie in inszensierten Gefühlswelten mitzuerleben. Wenn deshalb bei entgrenzten Menschen der Wunsch zu beobachten ist, solche Gefühlswelten zu inszenieren oder (mit-) zu erleben, dann ist dies, psychoanalytisch gesehen, ein Hinweis darauf, dass zumindest
diesen Menschen ihre eigenen Gefühle nicht wirklich gänzlich fremd sind; sie sind auch nicht aus ihrer Persönlichkeit »ausradiert«, sondern unterliegen einer Verdrängung oder auch Verleugnung, die dafür sorgt, dass sie nicht als eigene Gefühle wahrgenommen werden.
Die andere Motivation, bestimmte inszenierte Gefühlswelten attraktiv zu finden, entspringt dem Bedürfnis, negativen Selbstwahrnehmungen zu entkommen, und zwar solchen, die sie schon immer im Leben begleiten, aber auch solchen, die sich erst aus dem Entgrenzungsstreben selbst ergeben können.
Negative Selbstgefühle, die bestimmten Situationen durchaus angemessen sind, sind etwa Gefühle von Schwäche, Ohnmacht, Wertlosigkeit, Versagen, Angst, Schuld, Scham. Für entgrenzte Menschen sind sie oft derart bedrohlich, dass sie sie in ihr Gegenteil verkehren müssen und eine kontraphobische Gefühlswahrnehmung inszenieren: Aus der Angst wird dann der Kitzel des Bedrohlichen und die Lust am Thrill, aus dem Schuldgefühl wird der ewige Besserwisser, Rechthaber und Perfektionist, und statt sich vor Scham die Augen zu verdecken weidet man sich am Schamlosen und gibt sich unverschämt offen. Gefühle von Schwäche- und Ohnmachtsgefühle lassen sich vom eigenen Erleben fernhalten, indem man Selbstbewusstsein und Stärke zeigt oder in die Powerinszenierungen (einer Musik, eines Kriegsfilms, eines Killerspiels) eintaucht. Eigene Wertlosigkeits- und Versagensgefühle schließlich sind wie weggeblasen, wenn man bei der religiösen Erweckungsfeier mit vielen anderen tanzend und gestikulierend davon singt, wie die Liebe Gottes das verlorene Schaf sucht oder - Szenenwechsel - wenn man unter Absingen des jeweiligen »Schlachtengesangs« den Sieg der »eigenen« Bundesligamannschaft herbeiführt.
Schließlich dienen inszenierte Gefühlswelten auch zur Flucht vor negativen Selbstgefühlen, die sich erst mit dem Entgrenzungsstreben einstellen. Wer seine eigene Vorstellungskraft und aktive Fantasietätigkeit durch den Konsum von Fantasieproduktionen verkümmern lässt, droht mit einer sehr
Weitere Kostenlose Bücher