Der entgrenzte Mensch
unangenehmen
Selbstwahrnehmung konfrontiert zu werden, nämlich seiner eigenen Ideen- und Fantasielosigkeit, und muss sein Heil vermehrt in immer noch fantastischeren Inszenierungen suchen. Gleiches gilt für Gefühle von Langeweile und Antriebslosigkeit, die sich umso quälender einzustellen drohen, je mehr man bei inszenierten Gefühlswelten auf Kosten eigener Gefühle und Strebungen Zuflucht nimmt. Hier, wie auch bei noch anderen negativen Selbstgefühlen (wie Gefühlen von Desinteresse, Gleichgültigkeit, Passivität), ist immer die Gefahr, dass man negative Selbstgefühle, die die Folge der Entgrenzung der eigenen seelischen Antriebsstruktur sind, mit eben diesen Entgrenzungsmitteln zu bekämpfen versucht und damit in eine Abhängigkeitsdynamik gerät.
NEU ZU ERFINDENDE REGELN
Entgrenzung aus Leidenschaft will auch jene Grenzen beseitigen oder verleugnen, die zur Selbst-Steuerung und zur Steuerung des Miteinanders mit Hilfe von Gesetzen, Normen, Regeln, Verhaltensanweisungen usw. gesellschaftlich vereinbart und institutionalisiert wurden. Sieht man von Verhaltensreaktionen ab, die auf Reflexen beruhen oder vorübergehenden Moden entstammen, dann finden sich solche Regeln immer auch in verinnerlichten Vorstellungen von Idealen, Werten, Geboten und Verboten wieder, mit denen wir etwas wollen, anstreben, sollen, vermeiden, aushalten oder uns versagen. Der generelle Anspruch auf die Entgrenzung des Normativen konkretisiert sich freilich bevorzugt dort, wo Entgrenzungswillige durch Maßgaben gesellschaftlicher Art an der selbstbestimmten Neukonstruktion ihres Lebens gehindert werden.
Wie wenig hier Rück-Sicht auf Bewährtes noch Orientierung und Maß gebend ist, aber auch, wie die Neukonstruktion eines geregelten Miteinanders angesichts des Entgenzungsstrebens aussehen könnte, lässt sich bereits an dem eingangs zitierten Gitarrenspieler erahnen. Sein entgrenztes, rücksichtsloses Ich ist durchaus bereit, sich am Anspruch eines anderen Ichs zu orientieren. Allerdings stellt er sein nächtliches Gitarrenspiel nicht deshalb ein, weil ein solches nach den Regeln des Campingplatzes verboten ist, sondern weil ein anderes Ich sich meldet und dadurch seinem Entgrenzungswunsch eine Grenze setzt. Aus seiner Perspektive geht es um einen Ausgleich zwischen zwei sich unterschiedlich entgrenzenden Ichs. Da sein Ich sich zwar Gitarre spielend entgrenzen kann, während andere schlafen, aber andere nicht schlafen können, während er Gitarre spielt, orientiert er sein Verhalten am Anspruch der anderen und kann er auf das Spielen verzichten. Ohne das Beispiel zu sehr strapazieren zu wollen, es macht zumindest deutlich, dass für entgrenzte Menschen jedes und alles zur Disposition steht, weshalb Regeln neu erfunden werden müssen. Auch illustriert es, dass man sich zu seinen eigenen Entgrenzungsansprüchen bekennen muss, damit dann über konkurrierende Realisierungswünsche des Entgrenzungsstrebens verhandelt werden kann.
Während eine soziologische Perspektive vor allem am Schicksal der gesellschaftlichen Vereinbarungen interessiert ist und angesichts der Entgrenzungsvorgänge nach neuen Regulierungsprozessen und Regeln forscht, richtet sich das Augenmerk einer psychologischen Betrachtung in erster Linie auf das Schicksal, das die verinnerlichten Regulierungsinstanzen in Gestalt eines Über-Ichs, Ich-Ideals, Gewissens und anderer, das Verhalten regulierender psychischer Strukturen bei entgrenzten Menschen erleiden. Denn als Teil der psychischen Ausstattung stellen sie eine Vorgabe und Maßgabe dar, von der sich der entgrenzte Mensch entbinden muss, wenn er ohne permanente Angst-, Schuld- und Schamgefühle ein entgrenztes Leben führen will. Diese drei Affekte sind es denn auch vor allem, die, neuronal
mit den Lust- und Unlust bzw. Belohnungs- und Bestrafungszentren verbunden, beim Aufbau der inneren Orientierungs- und Regulierungsinstanzen eine entscheidende Rolle spielen. Kein Wunder also, dass es zu Gefühlen von Schuld, Angst und Scham und deren Abkömmlingen kommt, wenn an die verinnerlichten Grenzziehungen gerührt wird. So ist es nur folgerichtig, wenn die Beseitigung oder Verleugnung dieser Gefühle das erklärte Ziel des Entgrenzungsstrebens ist.
Frei fühlt sich der entgrenzte Mensch erst, wenn er kein Pflichtgefühl mehr spürt; wenn kein inneres Auge ihn permanent beschämen will und er um seine Ehre und Anerkennung bangen muss; wenn er nicht nur kein schlechtes Gewissen, sondern nach Möglichkeit gar kein Gewissen
Weitere Kostenlose Bücher