Der entgrenzte Mensch
spürt. Er möchte sich keine Vorwürfe machen müssen, zu wenig für die Kinder zu tun; auch sollen ihn keine Schuldgefühle mehr quälen angesichts 50 unerledigter Mails und eines selbst gesetzten Ideals, den Erwartungen anderer möglichst immer und sofort gerecht werden zu wollen! Vor allem aber wird er sich frei fühlen, wenn ihn keine Versagensangst mehr plagt und er nicht mehr vor dem Verriss seiner Ausarbeitung zittern muss, weil er endlich gelernt hat, ganz selbstbestimmt zu sein und ein von den eigenen inneren Maßstäben und Maßregelungen entgrenztes Leben zu führen imstande ist.
Wer seine inneren Orientierungen und Wertsysteme zum Schweigen bringen kann, wird auch nicht mehr von einer zueigen gemachten familiären, schulischen oder beruflichen Leistungsorientierung angetrieben; er weiß eigentlich gar nicht mehr, was er will, weil bisher immer ein anderer das Sagen in ihm hatte und für ihn gewollt hat. Das bisher bestimmende Wertesystem hatte einem nämlich auch ein Wertempfinden und eine Orientierung ermöglicht. Es gab ein Gefühl der moralischen Sicherheit, das einem sagte, wo es lang geht und was im Leben richtig und wichtig ist. Seine Beseitigung verunsichert und macht desorientiert, nötigt einen zu verzweifelten Suchbewegungen und führt nur zu oft zu scheiternden Experimenten. Der entgrenzte Mensch merkt auf einmal, wie sehr er sich von Idealen der Rücksichtnahme,
Fürsorglichkeit, Hilfsbereitschaft hat leiten lassen, um jemand anderem in ihm zu gefallen oder um soziale Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen. Bleiben diese verinnerlichten Rückmeldungen der Umwelt mit der Entbindung von solchen eigenen Idealen aus, dann wird er sich auch weniger wertgeschätzt erleben können.
Je nachdem, wie die inneren, das Verhalten regulierenden Instanzen konstruiert sind, führt deren Entgrenzung nicht nur zu einem intensiveren Freiheitserleben, sondern auch zu einer Desorientierung des Wollens und Strebens, zu Interesse- und Antriebslosigkeit und zu einer oft nur schwer zu verkraftenden Entwertung und Desillusionierung. Diese Folgen können nichtsdestotrotz eine wichtige Voraussetzung und Durchgangsphase sein, um zu einem tatsächlich von inneren Fesseln befreiten Leben zu kommen. Ob die genannten Verlusterfahrungen tatsächlich zu einer Neuorientierung und zu einer neuen Organisation der Regulation des Verhaltens führen, hängt in erster Linie davon ab, ob das Befreiungsmoment erlebt werden kann und als »Freiheit für« ein selbstbestimmtes Leben genutzt wird.
Der Entgrenzungsvorgang selbst ähnelt in manchem therapeutischen Prozessen, bei denen es um die Auflösung einer rigiden Über-Ich-Struktur oder um die Entzauberung eines Selbstbildes voller Ideale geht. Zumindest vom subjektiven Erleben her führen solche Entgrenzungen immer auch zu einer massiven Labilisierung der Persönlichkeit, die über das therapeutische Arbeitsbündnis aufgefangen wird. Dieser geschützte Raum fehlt in der Regel, wenn das gesellschaftlich erzeugte Entgrenzungsstreben sich der eigenen inneren Orientierungs- und Regulationssysteme bemächtigt. Das Risiko ist deshalb erhöht, sich die fehlende Sicherheit und Orientierung, vor allem aber die ausbleibende Wertschätzung durch andere sowie das fehlende Selbstwerterleben selbst zu besorgen mit potenziell abhängig machenden Belohnungsmöglichkeiten wie Alkohol, Medikamenten, Drogen und exzessivem Verhalten.
Abgesehen von diesem erhöhten Risiko, das sich aus dem Entgrenzungsvorgang selbst ergibt, ist zu fragen, was an die Stelle der inneren Regulationssysteme tritt. Denn dass das Leben und Zusammenleben geregelt werden und sich an etwas orientieren muss, wird auch von Menschen, die keine Grenzen dulden, nicht bestritten. Im Gegenteil, sie wollen nichts lieber, als alles neu orientieren und regulieren. Wo immer entbundene, freie und selbstbestimmte Menschen auf das selbstbestimmte Entgrenzungsstreben eines anderen oder vieler anderen stoßen, gilt es, das Zusammenleben unter dem Leitwert der Selbstbestimmung neu zu regeln; gleichzeitig lässt sich beobachten, dass entgrenzte Menschen auch vermehrt nach Ratgebern, Weisheitslehrern und Techniken der Lebenskunst fragen, weil sie ohne innere Orientierungen und Regulatoren ratlos zu werden drohen und vom Fundus eigener Weisheit abgeschnitten sind.
Tatsächlich kommt es bei der Entbindung von den inneren Regulationssystemen bei den meisten entgrenzten Menschen zu einer stark ausgeprägten »Außenorientierung«, die bei
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