Der entgrenzte Mensch
Verständnis ist das damit verbundene Schuldgefühl wie weggeblasen, denn Verständnis ist ein positiv besetzter Begriff und hat keine innere Verbindung zu einem Schuldgefühl. Noch wichtiger aber ist die Vertauschung der Aktivität: Wenn jemand sich entschuldigt, dann tut dieser Jemand etwas; wenn ich aber um Verständnis gebeten werde, dann habe ich etwas zu erbringen. Um diese »Bewegung« weg von der eigenen Verantwortlichkeit und dem, was man aus eigenen (Seelen-)Kräften tun kann, hin zu dem, was von anderen und anderem erwartet wird, soll es ausführlicher im folgenden Abschnitt gehen.
7
DOPING DER SEELE
Im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass und wie Menschen von einer leidenschaftlichen Grundstrebung nach Entgrenzung angetrieben sein können. Die Konkretisierungen der Entgrenzung hinsichtlich des Eigenseins und des Bezogenseins, der Gefühle und der Wertorientierungen lassen keine Zweifel daran, dass entgrenzte Menschen neue Möglichkeiten und Fähigkeiten entwickeln und auch neue Modelle des Selbsterlebens, der Emotionalität, des Verbundenseins mit anderen und der Wertorientierung praktizieren. Zwar werden diese Modelle im Einzelfall meist nicht in Reinkultur gelebt und zeigen viele Menschen nur in Ansätzen oder in bestimmten Hinsichten ein deutliches Entgrenzungsstreben, dennoch sind die durch ein solches Streben bewirkte Zielsetzung und die damit eingeleiteten Veränderungen des Menschen klar erkennbar.
Vieles spricht dafür, dass durch das Entgrenzungsstreben nicht nur vorhandene psychische Möglichkeiten und Fähigkeiten durch Verdrängung und Verleugnung außer Kraft gesetzt werden, sondern dass es durch das Entgrenzungsstreben auch zu Einbußen bei den Aufgaben kommt, die jeder Einzelne zur Bewältigung seines Lebens mit Hilfe seiner psychischen Ausstattung zu erfüllen hat. Eine solche Schwächung des Ichs auf Grund struktureller Defizite zeigt sich nicht nur in einer zunehmenden Abhängigkeit von den Mitteln der Entgrenzung, sondern auch zum Beispiel darin,
dass man entgrenzten Menschen keine Enttäuschungen und negativen Wahrnehmungen mehr zumuten kann, dass sie zwischen Simulation und Realität nicht mehr ausreichend unterscheiden können oder, dass sie zunehmend unfähig werden, ambivalente Gefühle und Wirklichkeitswahrnehmungen auszuhalten.
Manchen mögen solche Veränderungen an das Doping im Sport erinnern und die durchaus kontroverse Diskussion darum. Auch beim Doping geht es um eine Entgrenzung der auf natürlichem Wege erreichbaren Leistungsfähigkeit. Waren es am Anfang vor über einhundert Jahren zuerst Opiate und Narkotika, mit denen gedopt wurde, kamen mit der Erfindung synthetischer Hormone medikamentöse Dopingmittel ins Spiel. Heute kennt man eine breite Palette von Wirkstoffen und Methoden, die zu einer Leistungssteigerung über die Möglichkeiten des körperlichen Trainings hinaus führen. Die Frage einer künstlichen Leistungssteigerung durch Stimulanzien, Anabolika, Diuretika, körpereigene Eiweiße und einer durch Hormonzugaben erreichten Erhöhung der Aufnahmefähigkeit des Blutes für Sauerstoff (Epo) erregt vor allem die Gemüter derer, die im Sport nur eine natürliche Leistungssteigerung dulden wollen. Aber was ist eine natürliche, was eine künstliche Entgrenzung der Leistung? Die Erhöhung der Aufnahmefähigkeit des Blutes für Sauerstoff lässt sich auch - wie in der DDR und in Skandinavien geschehen - durch ein Training in Unterdruckkammern erreichen. Ist dies eine künstliche oder eine natürliche Methode der Leistungssteigerung?
Eine ähnlich kontroverse Diskussion kann man sich auch im Blick auf die Entgrenzung des Menschen und seiner Persönlichkeit vorstellen. Warum soll die Seele nicht mittels inszenierter Gefühle, einem Bezogensein ohne emotionale Bindung und durch positives Denken gedopt werden? Beim Sport argumentiert man - durchaus zu Recht - mit den schädlichen Nebenwirkungen des Dopings, wenn man zwischen künstlicher und natürlicher Leistungssteigerung unterscheidet. Warum aber soll beim Doping der Persönlichkeit nicht auch nach den Langzeitfolgen, Risiken und Nebenwirkungen gefragt werden? Weder beim Sport
noch hinsichtlich der entgrenzten Persönlichkeit lassen sich ganz scharfe Trennlinien und Kriterien zwischen förderlichen Folgen und den eher schädlichen ermitteln, sehr wohl aber gibt es Erkenntnisse über die Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen - hier wie dort. Einige psychologisch besonders relevante und bedenkliche
Weitere Kostenlose Bücher