Der entgrenzte Mensch
Entbindung von inneren Regulationssystemen zu Ersatzkonstruktionen, bei denen es entweder um eine aktive oder um eine passive Selbstbestimmung geht. Dabei zeichnet sich die eben beschriebene aktive Version nicht nur durch eine aktive Rolle bei der Konstruktion neuer, selbstbestimmter Regeln aus. Sie teilt sich mit den neuen Regeln auch mit, indem sie neue Standards setzt, das Know-how weitergibt, Manuale und Regelwerke verfasst, als Coach oder Berater fungiert und der nicht mehr zählbaren Ratgeberliteratur noch ein paar Titel hinzufügt. Selbst der Knigge ist wieder »in«, und zwar nicht aus einer neuen autoritären Unterwürfigkeit, sondern weil entgrenzte Menschen in Ermangelung eines eigenen und verinnerlichten Gespürs für Etiketten und Konventionen des Anstands für eine Neuregulierung offen sind.
Menschen, die ein von vorgegebenen Orientierungen, Idealen und Maßregelungen befreites Leben führen wollen, ziehen es in der Mehrzahl der Fälle vor, sich selbstbestimmt an jenen Werten, Normen und Regeln zu orientieren, die von anderen entgrenzten Menschen, von Szenen, Peergroups und Mediengrößen entwickelt, vorgelebt und angeboten werden. Psychologisch gesprochen suchen sie sich äußere Hilfs-Ichs und Hilfs-Über-Ichs, die mit ihrem Lebensstil, ihren politischen Überzeugungen, mit ihren Engagements und Leidenschaften, Wertsetzungen, Idealen und Abneigungen die nötigen Orientierungshilfen geben. Sie haben eine Vorbild- und Leitbildfunktion für alles, was man selbst erstrebt, vermeidet, auszuhalten versucht, verurteilt und wertschätzt. Dabei ist es der Selbstbestimmung geschuldet, dass man nicht von Vor- und Leitbildern spricht, sondern von dem, was zu einem passt.
Bei der Entgrenzung des Menschen von seinen eigenen Gefühlen war bereits zu beobachten, dass mit der selbstbestimmten Inszenierung von Gefühlen immer auch eine Selektion einhergeht: Negative Gefühle gegen andere und besonders negative Selbstgefühle sollen durch die Inszenierung von Gefühlen nicht mehr wahrgenommen werden müssen. Dieses Ausgrenzen negativer Gefühlswahrnehmungen spielt auch bei der Entbindung von inneren Regulierungssystemen eine zentrale Rolle, weil die verinnerlichten Vorstellungen von dem, was gut, böse, erstrebenswert, zu vermeiden, förderlich, schädlich oder verabscheuenswürdig ist, immer mit entsprechenden affektiven Qualitäten verbunden ist: mit Gefühlen von Angst, Schuld, Scham, Ekel usw., aber etwa auch mit Gefühlen der Genugtuung, des Stolzes, der Ehre, der Begeisterung, des Akzeptiertsein, der Geborgenheit, der Rechtschaffenheit. Diese letztgenannten Gefühle tragen zu unserem Erleben von Selbstwert, Glück und »Seelenruhe« wesentlich bei - frei nach dem Sprichwort: »Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.«
Mit der Entbindung von den inneren Orientierungssystemen entledigt man sich auch der Wahrnehmung beider Gefühlsqualitäten,
der negativ erlebten wie der positiv erlebten. Man kann frei wählen und hat es selbst in der Hand, welches affektive Erleben mit den neuen Regulierungen und Orientierungen einhergehen soll. Ein Blick in Manuale für betriebliche Führung, Verhaltenstherapie und Coaching, in pädagogische und sozialpädagogische Lehrbücher, in Handreichungen für eine ergebnisorientierte Sozialarbeit, Erziehungsratgeber oder Lebenskunstbücher zeigt, dass für die in Einführung und Durchsetzung neuer Orientierungen und Regeln nur noch belohnende Affektqualitäten vorgesehen sind: mit akzeptierenden, anerkennenden, wertschätzenden, belohnenden, ermutigenden, immer nur lobenden, auszeichnenden und mit in jeder Hinsicht positiven Resonanzen lassen sich neue Orientierungen und Regulierungen zur Geltung bringen. Dass mit einer solchen Selektion die Fähigkeit zur Kritik, zum Konflikt, zur Opposition, zum Widerspruch, zur streitbaren Auseinandersetzung, zum Ärger, zur Entrüstung verloren geht, ist die Kehrseite einer solchen Entbindung von inneren Steuerungen.
Symptomatisch hierfür ist eine Beobachtung, die jeder täglich machen kann: Wenn sich jemand für etwas entschuldigen muss und dies nicht nur floskelhaft tut, konnte man bisher erwarten, dass er sagt: »Ich möchte mich dafür entschuldigen« oder »Es tut mir leid« und lässt dabei auch spüren, dass er sich in der Schuld fühlt. Genau dies aber geschieht immer seltener. Stattdessen wird gesagt: »Bitte, haben Sie dafür Verständnis!« Oder: »Ich bitte um Ihr Verständnis.« Bei der Ersetzung des Begriffs Schuld durch
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