Der entgrenzte Mensch
Unmögliche nur dadurch möglich war, dass er wie Peter Pan Zuflucht in einem entgrenzten Kindsein suchte - einem Kindsein, das die Welt der Erwachsenen und des Erwachsenwerdens meidet und gleichzeitig die eigene kindliche Abhängigkeit verleugnet -, diese Vorstellung ist vor allem für seine Fans kaum nachzuvollziehen. Und doch spricht sehr viel dafür, dass er keine sexuellen Absichten auf Kinder hin hatte, sondern die Kinder ihm dazu dienten, sich seines entgrenzten Kindseins zu versichern.
Die viel diskutierte Frage, ob Michael Jackson wie viele andere große Künstler unter einer gespaltenen, multiplen oder sonstwie gestörten Persönlichkeit litt, interessiert hier nicht. Erkennbar ist, dass er eine offizielle und zugleich eine inoffizielle, gut maskierte Botschaft hatte und, dass er wegen beider Botschaften, das heißt aus unterschiedlichen Gründen, zu einem Idol gemacht wurde.
Die offizielle Botschaft ist das persönlich vor- und ausgelebte
und künstlerisch zum Ausdruck gebrachte Streben nach Entgrenzung. Mit dieser Botschaft sprach er die Wünsche und Hoffnungen von Menschen an, die für Entgrenzungserfahrungen offen sind. Um bei ihrer beruflichen Arbeit, bei den sozialen Kontakten und hinsichtlich ihres Selbsterlebens erfolgreich sein zu können, setzen sie auf die Beseitigung von Grenzen in allen Lebensbereichen. Die Stärke ihres Entgrenzungsstrebens lässt sich, so wurde gezeigt, daran erkennen, wie sehr sie Jacksons Abhängigkeitserkrankung verleugnen und wie sie mit seinem Tod umgehen.
Der nicht so offen zu Tage liegende »Plot« des Dramas Michael Jackson, das heißt die verborgene und maskierte Botschaft betrifft das Wie des Entgrenzungsstrebens. Jedes Entgrenzungsstreben kann vorwärts- oder rückwärtsorientiert sein. Ist es vorwärtsorientiert, dann drängt es die Betreffenden, bisher vertraute Grenzen zu überwinden und hinter sich lassen zu wollen. Beim rückwärtsorientierten Entgrenzungsstreben fühlt man sich getrieben, die Grenzen zu längst überwundenen und verlassenen Wahrnehmungs- und Wunschräumen zu überschreiten und sich in sein Kindsein und dessen Bedürfniswelt hinein entgrenzen zu wollen. Ein derart regressives Streben hat für viele eine große Attraktivität, weil es ein grenzenloses Umsorgtwerden sowie paradiesische Zustände suggeriert. Dass die rückwärtsorientierte Lösung nur deshalb so attraktiv erscheint, weil das kindliche Erleben von Abhängigkeit, Ohnmacht und Verlorensein verleugnet wird, kann ebenso wenig zugegeben werden wie die Tatsache, dass die Abhängigkeit von Menschen, Verhaltensweisen, Drogen oder Medikamenten ein solches Entgrenzungserleben erst möglich machen.
Diese Feststellung gilt zunächst für Michael Jackson selbst. Sein Entgrenzungsstreben realisierte sich spätestens mit Neverland immer stärker auch regressiv. Schließlich konnte er ohne seine »Milch« aus Narkotika nicht mehr einschlafen, bis die Dosis so hoch war, dass er für immer einschlief. Die Feststellung gilt darüber hinaus auch für jene seiner Fans, die - zugegeben oder
nicht zugegeben - von seiner maskierten Botschaft der Entgrenzung ins eigene Kindsein angezogen werden. Dass sie gerade von seinem rückwärtsorientierten Entgrenzungsstreben angetan sind, lässt sich daran erkennen, dass sie bis heute keinen Anstoß an seiner Art nehmen, wie er sich mit Peter Pan identifizierte, sein durch keine Grenzen eingeschränktes Kindsein rücksichtslos auslebte, andere Kinder narzisstisch missbrauchte und wie mit seinen Frauen und mit den eigenen Kindern umging. Eben weil diese Fans innerlich mit seiner Entgrenzung ins Kindsein identifiziert sind und ihre eigenen Wünsche nach kindlicher Entgrenzung in seiner Idolisierung ausleben, finden sie daran nichts Anstößiges. Mit ihrer Idealisierung schützen sie sich davor, ihre Abhängigkeit spüren zu müssen - kein Mensch fühlt sich abhängig, wenn er sich mit einem bewunderten »Heilbringer« verbunden wähnt. Und mit ihrer Toleranz und Kritiklosigkeit schützen sie sich vor dem Eingeständnis, Bedürfnisse wie kleine Kinder zu haben.
Ich habe versucht, das Phänomen Michael Jackson und seine Rezeption bei den Fans und in der Öffentlichkeit in psychologischer Perspektive zu analysieren. Dabei interessierte vor allem das Entgrenzungsstreben. Es wurde sowohl als wirkmächtige Botschaft seiner Kunst und künstlerischen Performance erkannt als auch als Grundstrebung seiner Persönlichkeit. Mit seiner Kunst und Person verbunden zu sein,
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