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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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das Erleben von Abhängigkeit aus der Welt zu schaffen. Geradezu trotzig und gegen die Macht des Faktischen soll bewiesen werden, dass man die Situation voll »im Griff« hat und es keinen Grund zu negativen Gefühlsreaktionen gibt. Es ist die große Stunde der »Macher«, die rund um die Uhr im Einsatz sind. Sie sind zwar zum Umfallen müde, doch sie kennen keine Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Auch würde sie der Gedanke an die Abhängigkeit nur in ihrem Drang zu helfen und das Problem in den Griff zu bekommen hindern. Ein solcher Macher zu sein bzw. sich bewundernd mit solchen Machern zu beschäftigen, schützt einen bestens davor, die (fast) grenzenlose Abhängigkeit von der Elektrizität wahrnehmen und spüren zu müssen.
    Eine zweite Art und Weise der Abwehr ist das akribische Beschreiben und Messen der katastrophalen Vorgänge. Seitenweise werden Reports geliefert, wie viel Schnee hier und dort innerhalb von wie viel Stunden gefallen ist, in welchen Gemeinden wann das Licht ausging, wie viele Strommasten einknickten und wie alt diese Masten bereits waren. Auch interessiert, wann welcher Trupp des Technischen Hilfswerks aus dem Ruhrpott mit wie viel Männern wo zur Stelle war und welcher Rundfunksender ab wann nicht mehr und ab wann wieder zu empfangen war. Das akribische Berichten und Zählen gibt zwar vor, die Vorgänge ganz
genau wahrzunehmen und am Puls des Geschehens zu sein, doch hat es offensichtlich eine ganz andere Funktion, nämlich sich keine Gedanken über das Geschehen zu machen und aufkommende Gefühlsreaktionen mit dem »Aufzählen« von objektiven Zahlen im Keim zu ersticken.
    Die öffentlich agierte Abwehr der kognitiven und emotionalen Abhängigkeitswahrnehmung sieht meist noch einmal anders aus. Sie arbeitet mit der Schuldfrage und braucht einen Sündenbock, dem man die Schuld aufladen kann. Es wird eben nicht zugegeben, dass es ein Fehler der Politik, der Verwaltungen und jedes Einzelnen ist, sich in einer so umfassenden Weise vom öffentlichen Stromnetz abhängig zu machen und nicht für zusätzliche, vom öffentlichen Stromnetz unabhängige Erzeuger von Elektrizität zu sorgen. Statt die Verantwortung auch bei sich zu suchen, sucht man einen Schuldigen.
    Er wurde im Elektrizitätskonzern gefunden, der zu wenig in die Erneuerung seiner teilweisen maroden, weil mit minderwertigem Stahl gebauten Strommasten investiert habe. Die Höhe des entstandenen Schadens wurde auf 100 Millionen Euro geschätzt und die Frage der Haftung heiß diskutiert. Die bisherige Haftungsfreistellung des Elektrizitätskonzerns RWE müsse unbedingt abgeschafft werden, so wurde gefordert. Zur Beruhigung der Gemüter stellte der Konzern fünf Millionen Euro für einen Härtefallfond zur Verfügung. Er wollte damit vor allem sein Image aufpolieren, bedachte jedoch nicht, dass er sich mit diesem Akt der Öffentlichkeitsarbeit auch mit der Schuldprojektion identifizierte.
    Die Bereitschaft des Konzerns zu zahlen, nutzten deshalb nicht nur tatsächlich zu Schaden gekommene Betriebe, Landwirte und Gewerbetreibende aus, sondern auch solche, die mit ihrem Anspruch auf Schadensersatz die Schuld des Konzerns unter Beweis gestellt haben wollten, ohne selbst beweisen zu können, wie sie zu Schaden gekommen sind. Einer Mitteilung der Bezirksregierung Münster zufolge, mussten etwa ein Viertel der 2540 Anträge auf Schadensersatz abgelehnt werden, weil kein Beleg und keine
plausible Erklärung für eine Schädigung beigebracht werden konnten.
    Selbst wenn der Konzern eine Mitschuld hat, so wird in der Suche nach einem Sündenbock, in der Intensität der Anklage und in der Entrüstung über die Verantwortungslosigkeit des Konzerns erkennbar, dass mit der Kaprizierung auf die Schuld des Konzerns von den eigenen Gefühlen abgelenkt werden soll. Tatsächlich stellt ja der Stromausfall im Münsterland unsere heutige Art, das Leben und das Überleben zu organisieren, in Frage. Es müsste jedem Angst und Bange werden angesichts der bestehenden Abhängigkeit und angesichts eines so bedrohlichen Ohnmachterlebens. Zudem sind ja noch ganz andere Szenarien vorstellbar als »nur« einige Dutzende geknickte Stromleitungsmasten. Auch müsste es eine öffentliche Diskussion geben, wie diese reale Abhängigkeit reduziert werden kann. Davon aber war so gut wie nichts in all den vielen Dokumenten des Umgangs mit dem Stromausfall zu finden. Auch im Rückblick wurde die Frage der Abhängigkeit nicht thematisiert. Stattdessen wurde neun Monate

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