Der entgrenzte Mensch
Weder die elektrische Zahnbürste noch die Kaffeemaschine waren zu gebrauchen. Das Duschwasser kam noch lauwarm, taugte aber höchstens zum Kneippen, nicht aber zum Duschen oder um den Po des Wickelkindes zu waschen. Verzweifelt versuchte man die Milchflasche für den Säugling zwischen den Händen warm zu bekommen. Die Brötchen zum Frühstück am Samstag gab es auch nicht, weil der Bäcker keine backen konnte. Überall war es kalt und mangelte es an warmem Essen. Mit der Zeit wurden Schulen und Turnhallen mit Hilfe von Notstrom beheizt und zum Zufluchtsort für Ausgekühlte.
Auf den Bauernhöfen des Münsterlandes, die am längsten unter dem in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellosen Blackout zu leiden hatten, gab es zwar meist holzbefeuerte Kachel-oder Kaminöfen. Dafür aber litt das Vieh. Ohne Melkmaschinen wurde den Kühen der Euter zur Qual. In den Schweinezuchtbetrieben starben die Ferkel zu Dutzenden, weil der Stallboden nicht mehr beheizt werden konnte und die Muttertiere sich auf die Ferkel gelegt hatten. Die Lüftungsventilatoren standen ebenso still wie die Biogasanlagen.
Die geschilderten »Streiflichter« vom Stromausfall im Münsterland führen vor Augen, welche Bedeutung die Elektrizität in unserem Alltag hat: Sie versetzt uns in die Lage, mit einem Knopfdruck - oder auch ohne einen solchen - sehr viele unserer Alltagsbedürfnisse befriedigen zu können. Die beschriebenen Folgen des Stromausfalls machen aber auch überdeutlich, wie abhängig wir von der Elektrizität sind. Je umfassender das Stromnetz ist und je mehr es ermöglicht, desto abhängiger sind wir von ihm. Die (fast) grenzenlosen Möglichkeiten sind mit einer (fast) grenzenlosen Abhängigkeit gepaart.
In psychologischer Perspektive interessiert, wie wir mit diesem Doppelgesicht der Elektrizität kognitiv und emotional umgehen,
es also gedanklich wahrnehmen und verarbeiten und wie wir es gefühlsmäßig spüren bzw. auf es affektiv reagieren. 1
Hinsichtlich der (fast) grenzenlosen Möglichkeiten der Elektrizität lässt sich unschwer feststellen, dass sie uns auf Schritt und Tritt gegenwärtig sind, allerdings meist nicht direkt, sondern in den von ihr gespeisten technischen und elektronischen Gebrauchsgegenständen, Hilfsmitteln und Wunderwerken, die uns ein Gefühl von Funktionalität, Gelingen, Stärke, Wirkmächtigkeit und Allmacht vermitteln. Solche Gefühle werden gleichzeitig durch die Werbung, aber auch ganz allgemein über die Medien verstärkt. Uns wird entweder suggeriert, dass wir Könner, Gewinner, voller Power und ein Erfolg sind oder uns wird offeriert, wie wir zu einem solchen »Empowerment« gelangen können.
Das andere »Gesicht« der Elektrizität, unsere (fast) grenzenlose Abhängigkeit von ihr, bleibt im Vergleich hierzu völlig unterbelichtet. Fragt man, wie Betroffene mit dem Abhängigkeitsaspekt der Elektrizität kognitiv und emotional umgingen, so lässt sich eine weitgehende Unbewusstheit und Abwehr der Wahrnehmung jener Gefühle konstatieren, die mit Abhängigkeit einhergehen: Gefühle der Angst, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht. Aber auch die kognitive Wahrnehmung der Abhängigkeit vom Strom wurde nur ungern thematisiert und »kommuniziert«.
Will man dennoch etwas über den Umgang der Betroffenen mit dem Abhängigkeitsaspekt in Erfahrung bringen, sollte man den Blick auf die Abwehrreaktionen in den Situationen richten, in denen die Abhängigkeit vom Strom virulent wurde und es deshalb zu einer Mobilisierung der Abwehr kam. Ähnlich wie die Leserbriefseiten in den Printmedien geben die von Einzelnen eingestellten, öffentlich zugänglichen Interneteinträge gute Einblicke in die seelischen Verarbeitungsmuster von Ereignissen. In ihrer
Häufung ermöglichen sie Erkenntnisse über die gesellschaftlich eingeübten Abwehrstrategien. Was hier an persönlichen Eindrücken und Bewältigungsreaktionen, aber auch an Kommentaren von Journalisten und Politikern mitgeteilt wird, verrät viel über die Abwehr der Abhängigkeitswahrnehmung und darüber, wie die mit ihr einhergehenden Gefühle von Angst und Ohnmacht vom bewussten Erleben ferngehalten wurden.
Tatsächlich wird das Thema »Abhängigkeit vom Strom«, das angesichts der Ereignisse so offensichtlich ist, überhaupt nicht thematisiert. Es taucht indirekt in den Berichten über die Arbeit von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk auf, die an den wichtigsten Stellen mit Notstromaggregaten aushelfen und also alles in ihren Kräften stehende tun, um
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