Der entgrenzte Mensch
dass nichts unmöglich und begrenzt ist. Deshalb sollte man sich nicht damit zufrieden geben, dass etwas nur begrenzt möglich ist und zwischen Mein und Dein immer zu unterscheiden ist; es muss alles möglich sein. Dieser Vorgabe haben nach Kräften alle zu folgen, die mit Kindern zu tun haben: sowohl die Eltern als auch alle, die erziehen, lehren, unterrichten, unterhalten, trainieren, Freizeit gestalten.
Bei den Eltern führt dies dazu, dass sie ihren Kindern auf der realen Ebene alles ermöglichen wollen und zu ihren Dienstleistern werden. Sie scheuen - je nach bevorzugten Entgrenzungsobjekten - keine Ausgaben für die Förderung der schulischen, künstlerischen, musischen oder sportlichen Begabung ihrer Kinder, für hochwertige Ernährung und anregende Spiele, für die Ausstaffierung mit der sozial erfolgreichen Markenkleidung oder für eine Unterhaltungskulisse, die keine Langeweile aufkommen lässt. Auch da, wo die Kinder sich selbst überlassen (und vernachlässigt) werden, mangelt es nicht an Mitteln zur Selbstversorgung und an Unterhaltungsmedien. Die Kinder sollen - wie Säuglinge - alles haben, was sie brauchen. Mit Kindern wird wie mit simulierten Säuglingen umgegangen.
Für Unannehmlichkeiten, die den Kinder von Dritten zugemutet werden, oder für grenzwertige Verhaltensweisen, die einem
die Kinder zumuten, wird die Verantwortung in erster Linie bei den Bezugspersonen gesehen: in der Schule bei den Lehrerinnen und Lehrern, zuhause bei den Eltern, ansonsten bei den mangelnden Kompetenzen der Bezugspersonen oder der »Szene«, also dem sozialen Umfeld, in dem sich Kinder und Jugendliche bewegen. Besonders deutlich wird das Pampern in der Aufrechterhaltung einer idealisierenden Bewunderung, die nur Lob und Anerkennung kennt und weder Kritik noch eine realitätsgerechte Einschätzung und Beurteilung erlaubt (etwa ablesbar an den Vorgaben für die immer nur positiv formulierte Beurteilung von Kindern durch die Lehrerinnen und Lehrer oder am Steigen des Durchschnitts der Abitursnote in den letzten Jahren). »Nüchtern« betrachtet, wird durch das Pampern eine virtuelle Realität hergestellt, in der die Bezugspersonen auf weiten Strecken mit virtualisierten Kindern zu tun haben: wie wenn diese noch immer Windeln anhätten, zu jedem und allem getragen sein wollten und vor jedem Ungemach geschützt werden müssten.
Die andere, heute praktizierte Art der Entgrenzung macht aus dem Kind einen Partner und simuliert mit dem Kind eine Beziehungsebene, die sonst nur unter Erwachsenen üblich ist. Wenn Kinder partnerschaftlich erzogen werden, dann ist gegenwärtig damit nicht gemeint, dass die Eltern sich bei der Erziehung des Kindes als Partner verstehen, sondern dass die Kinder zu Partner und Freunden der Eltern erzogen werden und die Familie ein gut funktionierendes Team darstellt. Werden Kinder zu Partnern gemacht, dann mag dies - zumal bei allein erziehenden Eltern - oft auch seinen Grund darin haben, dass Erwachsene auf Partnersuche sind und das sich erwachsen verhaltende Kind oder das anhängliche und bewundernde Kind solche an den Partner oder die Partnerin gerichteten Wünsche zu befriedigen weiß.
Bei einer simulierten Partnerschaft mit Kindern geht es um etwas anderes. Ihr liegt meist die eher unbewusste Absicht zu Grunde, den Kindern keinen Anlass zur Aggression, zum Widerstand oder zum Ungehorsam zu geben. Wie das Pampern dazu dient,
Probleme, die durch den Verlust der unbedingten und die Anerkenntnis einer bedingten Liebe entstehen, durch Entgrenzung zu umgehen, so sollen mit dem Partnerschaftsangebot auf einer simulierten erwachsenen Ebene die Auseinandersetzungen um den Verlust der bedingungslosen Liebe und die Anerkennung einer bedingten Liebe beseitigt oder ausgeblendet werden. Bezugspersonen bieten den Kindern eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe an, weshalb das Kind all die »Kindereien« Vergangenheit sein lassen soll. Indem es zum Partner und Freund gemacht wird, soll es sein eigenes Vermögen und seine eigene Leistungsfähigkeit nicht dadurch in Erfahrung bringen, dass es sich von den Bezugspersonen abgrenzen, sich mit ihnen auseinandersetzen bzw. messen will. Solche Auseinandersetzungen sind höchstens im Sport erlaubt, passen aber nicht in eine Familie, die sich als reibungslos funktionierendes Team, als Ensemble von Partnern oder gar als eine Art »Sozietät« mit einem gemeinsamen Außenauftritt versteht.
Nicht alle Kinder können einer solchen Einladung zu einer virtuellen
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