Der entgrenzte Mensch
möglich macht, setzt das Streben des entgrenzten Menschen nicht auf Grenzüberschreitungen des immer begrenzten Menschen-Möglichen, sondern auf Grenzüberschreitungen mit Hilfe von gemachtem Vermögen. Mit ihm lässt sich eine psychische Neukonstruktion des Menschen bewerkstelligen, die von der Begrenztheit menschlichen Vermögens »unbelastet« ist und zugleich alles beseitigt oder ausblendet, was an den vorherigen
Menschen erinnert. Diesem Zweck dient beim entgrenzten Menschen die Neukonstruktion seiner Persönlichkeit, das Unverbindlichmanchen von Beziehungen, die Enteignung seines Antriebslebens, die Veräußerlichung des Gefühlserlebens durch Inszenierung und Virtualisierung, das Vergessen des Vorgegebenen und seine Erinnerungs- und Geschichtslosigkeit sowie die Orientierung an je neu zu ermittelnden Regeln des Zusammenlebens statt an inneren Sollens- und Wollensstrukturen.
Der Wunsch nach einer psychischen Neukonstruktion des Menschen resultiert dabei einerseits aus einer Lust, die ungeahnten Möglichkeiten der Grenzüberschreitung insbesondere mit Hilfe der Virtualisierung der Persönlichkeit und eines Lebens in virtuellen Parallelwelten in Erfahrung zu bringen; andererseits lassen die hohen Anforderungen, die die vorgegebene psychische Konstruktion des Menschen bei der Grenzüberschreitung an den Einzelnen stellen, nach Auswegen suchen, die weniger anstrengend sind und nicht so häufig scheitern. Anstrengend sind bei der vorgegebenen psychischen Konstruktion vor allem die emotionalen Anforderungen im Zusammenhang mit dem Verzicht auf bewährte Bindungen und Beziehungen. Es kostet Kraft, sich auf ein ungewisses Neues einzulassen und das Vertraute und Sichere loszulassen bzw. aufzugeben. Viel zu oft scheitern Menschen an solchen Grenzüberschreitungen und bleiben dabei gleichsam an der Grenze hängen.
Die vielfältigen Charakter- und Symptombildungen, aber auch die Defizite der psychischen Fähigkeiten, die sich bei einer Fixierung auf ein früheres Bezogenheitsniveau einstellen und zu Hemmungen, Abhängigkeiten, Angstzuständen oder Depressionen führen, lassen sich mit einer Neukonstruktion der Persönlichkeit umgehen, die darauf abzielt, Grenzen dadurch zu überschreiten, dass sie beseitigt werden. »Entgrenzung« lautet deshalb das Lösungswort, um solche mehr oder weniger neurotischen Leidenszustände vermeiden zu können. Zweifellos lassen sie sich vermeiden. Doch was kommt dann? Mit welchen Leidenszuständen ist dann zu rechnen? Stellt die Beseitigung der Grenzen bei der
Grenzüberschreitung den Versuch dar, die Dämonen mit Beelzebul austreiben zu wollen?
Abschließend ist noch einmal genauer hinzuschauen und an einem Beispiel zu zeigen, wie der entgrenzte Mensch mit den notwendigen psychischen Grenzüberschreitungen umgeht. Auf diese Weise lässt sich zugleich anschaulich machen, warum eine entgrenzende Grenzüberschreitung mehr Freiheit spüren lässt und doch zugleich abhängiger macht und warum eine begrenzte Grenzüberschreitung weniger abhängig macht und mehr begrenzte Freiheit ermöglicht.
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WARUM GRENZENLOSIGKEIT ABHÄNGIG MACHT
Der entgrenzte Mensch, so schloss das vorangegangene Kapitel, versucht, die psychische Konstruktion des Menschen und die mit ihr einhergehenden, oft konfliktbehafteten Grenzüberschreitungen dadurch zu überwinden, dass er sein begrenztes und gleichzeitig auf Grenzüberschreitungen angelegtes Menschsein entgrenzt. Indem er Grenzen beseitigt oder ausblendet, beseitigt er unlustbesetzte und schmerzvolle Erfahrungen bei den entwicklungspsychologisch notwendigen Grenzüberschreitungen aus seinem Erlebensbereich.
Nun wurden in Kapitel 8 (»Grenzen des entgrenzten Menschen«) bereits die Probleme benannt, die sich entgrenzte Menschen bei der Neukonstruktion ihrer Persönlichkeit einhandeln. Sie reichen von mehr Stress auf Grund mangelnder Bindungskräfte über eine erhöhte Depressionsneigung und Gewaltbereitschaft auf Grund mangelnder Trennungskräfte, von einem Leben mit Feindbildern (und entsprechenden Spaltungstendenzen sowie einer paranoiden Reaktionsbereitschaft), und einer zunehmenden Unfähigkeit, Enttäuschendes, Leidvolles, Anstrengendes, Kritisches noch spüren und aushalten zu können bis hin zu deutlichen Anzeichen geschwächter Ichfunktionen und einer unverkennbaren Gefährdung, süchtig zu werden.
Die neu konstruierte Persönlichkeit des entgrenzten Menschen ist nicht weniger problematisch als die in unserer Kultur
bisher entwickelte, die auf das
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