Der entgrenzte Mensch
körperliche Vergänglichkeit zu akzeptieren und von einem Leben aus der Fülle der physischen Möglichkeiten Abschied zu nehmen, versucht zwar den Vorboten des körperlichen Todes aus dem Wege zu gehen, erleidet dabei aber einen vorzeitigen psychischen Tod. Sein psychischer Geburtsprozess endet vorzeitig. Er gerät in eine psychische Abhängigkeit von den Möglichkeiten und Grenzen, auf sich und andere bezogen zu sein, die für die nicht mehr überschrittene Entwicklungsstufe gelten. Denn in psychologischer Perspektive ist »das gesamte Leben des Einzelnen (…) nichts anderes als der Prozess, sich selbst zu gebären« (Fromm 1955, S. 23). Zu diesem Geburtsprozess gehört aber die Annahme der Begrenztheit des Lebens und des Sterbens hinzu.
Vor diesem Hintergrund lässt sich verallgemeinern, was eine
kreative Grenzüberschreitung auszeichnet: Im psychologischen Sinn »kreativ sein heißt, den gesamten Lebensprozess als einen Geburtsprozess anzusehen und keine Stufe des Lebens als endgültig zu betrachten« (Fromm 1959, S. 406). Jede kreative Grenzüberschreitung ist emotional an das Durchleben von Gefühlen der Trennung und Bindung gekoppelt, die als Facetten des Sterbens und Werdens wahrgenommen werden: Das sterbende Moment zeigt sich im Akt des Los- und Ablassens von bisherigen Möglichkeiten und Grenzen, während sich das Moment des Werdens im Zulassen von neuen Möglichkeiten und Grenzen manifestiert. Mit jeder Transformation kommt es zu einer Verinnerlichung des Bisherigen und ergeben sich neue Möglichkeiten des Lebens. Gleichzeitig handelt der Mensch sich aber auch neue Grenzen ein und sieht sich mit anderen Formen der Vergänglichkeit konfrontiert.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde zu zeigen versucht, wie eine kreative Grenzüberschreitung sich »anfühlt«, welchen Zuwachs sie ermöglicht und zu welchen Verzichtleistungen sie den Menschen nötigt; außerdem wurde darauf hingewiesen, wodurch eine Grenzüberschreitung behindert oder vereitelt werden kann. Auf der Basis dieser psychologischen Gegebenheiten ist nun zu fragen, was der entgrenzte Mensch mit den Anforderungen, die die psychische Entwicklung an ihn stellt, macht.
Zweifellos will auch der entgrenzte Mensch Grenzen überschreiten. Er sieht geradezu den Sinn jedes gesellschaftlichen Lebens wie den seines persönlichen Lebens darin, zu wachsen und das Erreichte je neu zu überschreiten und hinter sich zu lassen. Sein Denken, Fühlen und Handeln wird deshalb von einem Entgrenzungs streben angetrieben. Allerdings hat sein Umgang mit der Begrenztheit und mit Grenzen ein anderes Ziel: Grenzen werden ausschließlich als etwas Hinderliches angesehen, so dass diese Grenzen sowie alles, was auf sie stoßen lässt, aus der Welt zu schaffen sind. Selbst wenn dieses Ziel heute und hier noch nicht vollkommen realisierbar ist, so ist es doch die Realutopie, an der
sich entgrenzte Menschen orientieren und von der her sie ihr konkretes Verhalten definieren.
Das Streben nach Grenzenlosigkeit realisiert sich im konkreten Umgang mit Grenzen zunächst darin, dass Grenzen real beseitigt oder aus der Wahrnehmung ausblendet werden. Um das Entgrenzungsstreben jedoch wirklich effektiv zu gestalten, muss nach Möglichkeit auch das beseitigt oder ausgeblendet werden, was einen erneut mit Grenzen und Begrenztheit konfrontieren könnte. Dies ist der Hauptgrund, warum sich das Entgrenzungsstreben gegen die begrenzten Möglichkeiten des Menschen und seine grundsätzliche Begrenztheit selbst richtet. Aus der Perspektive des Strebens nach Grenzenlosigkeit ist die vorgegebene psychische Konstruktion des Menschen zu beseitigen und durch eine Neukonstruktion des Menschen zu ersetzen. Die psychische Konstruktion überwindet bei den Grenzüberschreitungen die Begrenztheit des Menschen und seines menschlichen Vermögens tatsächlich nicht grundsätzlich. Es werden immer nur bestimmte Grenzen des Menschen-Möglichen auf neue Möglichkeiten und Grenzen überschritten. Die Grenzüberschreitung ist also begrenzt und führt immer auch zu neuen Grenzen. Sie orientiert sich am Menschen als einem begrenzten Wesen - einem Wesen, das sich nur in emotional wahrgenommenen Beziehungserfahrungen entwickelt, das nur mit dem Durchleben von Bindungs- und Trennungsgefühlen zu einem inneren Wachstum und damit zu Grenzüberschreitungen fähig ist und das sich mit neuen Möglichkeiten immer auch neue Grenzen einhandelt.
Eben weil die psychische Konstruktion des Menschen keine Grenzenlosigkeit
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