Der Erbe der Nacht
Erde, allen voran die Schoggothen, die die Großen Alten selbst erschaffen hatten, standen gegen die finsteren Götter auf und versuchten ihr Joch abzu-schütteln. Die Erde brannte, und der Krieg der Giganten verwüstete ihr Antlitz in einer einzigen feurigen Nacht.
Die Großen Alten obsiegten, doch ihr blasphemisches Tun rief andere, mächtigere Wesenheiten von den Sternen herbei, die Älteren Götter, die seit Anbeginn der Zeiten im Bereich der roten Sonne Beteigeuze schlafen und über Wohl und Wehe des Universums wachen. Sie mahnten die Großen Alten, in ihrem Tun innezuhalten und nicht an der Schöpfung selbst zu rühren.
Aber in ihrem Machtrausch mißachteten die Großen Alten selbst diese letzte Warnung und lehnten sich gegen die Älteren Götter auf, und abermals kam es zum Krieg, einem gewaltigen Kräfteringen derer, die von den Sternen gekommen waren, und derer, die noch dort lebten. Die Sonne selbst verdunkelte ihr Antlitz, als die Mächte des Lichts und die Mächte der Finsternis aufeinanderprallten, und die Erde gerann zu einem flammenden Brocken aus Lava.
Schließlich siegten die Älteren Götter, aber nicht einmal ihre Macht reichte aus, die Großen Alten zu vernichten, denn was nicht lebt, kann nicht getötet werden. Und so verbannten sie die Großen Alten von diesem verwüsteten Stern.
Cthulhu ertrank in seinem Haus in R’lyeh und liegt seit Äonen auf dem Grund des Meeres. Azatoth erwürgte der Schlamm der finsteren Sümpfe, die sein Lebenselement gewesen waren. Schudde-Mell wurde verschlungen von feuriger Lava und Fels, und all die anderen Kreaturen und Wesen wurden verstreut in alle Winde und verbannt in finstere Kerker jenseits der Wirklichkeit.
Zweimal hundert Millionen Jahre sind seither vergangen, und seit zweimal hundert Millionen Jahren warten sie.
Denn das ist nicht tot, das ewig liegt, bis daß der Tod die Zeit besiegt …
Lange Zeit, nachdem ich mit der Lektüre der Seite fertig war, herrschte Schweigen im Zimmer. Die letzte Zeile hallte in mir unheimlich nach, trotz ihrer scheinbaren Sinnlosigkeit. Das ist nicht tot, das ewig liegt bis daß der Tod die Zeit besiegt …
Ich schauderte. Die Worte hatten etwas in mir berührt, eine Saite in mir zum Schwingen gebracht, von deren Existenz ich bisher nichts geahnt hatte. Das ist nicht tot, das ewig liegt, bis daß der Tod die Zeit besiegt …
Das Lächeln, mit dem ich hochsah und meinen Großvater anblickte, kostete mich mein letztes bißchen Kraft.
»Interessant«, sagte ich. »Und was … soll das?«
Großvater antwortete nicht.
»Das ist Lovecraft, nicht?« fuhr ich nach einer Weile fort.
»Aber es ist nicht ganz korrekt zitiert.«
Großvater schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er ernst. »Umgekehrt, Robert. Lovecraft hat aus diesem Buch zitiert. Und wohlweislich nicht ganz korrekt.« Einen Moment lang starrte er mich noch durchdringend an, dann stand er auf, klappte das Buch zu und trug es zum Safe zurück. Die zollstarke Panzertür schloß sich so lautlos, wie sie aufgegangen war.
»Du hast alle Romane von Howard Phillips Lovecraft gelesen, nicht wahr?« fuhr Großvater fort, nachdem er auch das Ölgemälde an seinen alten Platz gebracht und sich wieder gesetzt hatte.
Ich nickte. »Natürlich. Du selbst hast mir die Bücher gegeben, und auch die von C. A. Smith, Leiber … alles über den Cthulhu-Mythos. Aber du …«
Ich sprach nicht weiter, als ich Großvaters Blick bemerkte. Er hörte mir aufmerksam zu, als wartete er darauf, daß ich etwas aussprach, etwas ganz Bestimmtes, das ich längst wußte und mir nur noch nicht eingestehen wollte.
»Das meinst du nicht wirklich«, sagte ich schließlich. »Lovecraft und all die anderen zitieren aus dem Necronomicon, aber das … das ist doch nur ein erfundenes Buch. Ich meine, der ganze Cthulhu-Mythos ist doch nur erfunden!« Bei den letzten Worten nahm meine Stimme einen eindeutig hysterischen Klang an.
Ich schrie fast.
»Nein«, sagte Großvater ruhig. »Das ist er nicht.«
Eine eisige Hand schien nach meinem Herzen zu greifen und ganz langsam zuzudrücken. »Du … du willst damit sagen, daß
… daß dieses Buch …«
»Das Necronomicon ist«, vollendete Großvater den Satz, den ich einfach nicht mehr weitersprechen konnte. »Das echte Necronomicon, Robert. Das einzige Exemplar, das existiert. Ja.
Genau das will ich sagen.«
Ich starrte ihn an. Mein Großvater war ein komischer alter Kauz, dafür bekannt, immer für einen unverhofften Scherz gut zu sein aber
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