Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
verspreche es.“
„Es ist schon so lange her und eigentlich sollte es nicht mehr wehtun. Die meiste Zeit erinnere ich mich nicht einmal, aber hin und wieder … Meine maman hat mir jeden Abend Geschichten und Märchen erzählt. Bücher gab es nicht allzu viele da, wo wir lebten. Am liebsten mochte ich die Geschichte, in der ein Ritter auf weißem Pferd mit einem Schwert in der Hand zu dem hohen Turm reitet, in dem ein böser Zauberer die schöne Prinzessin gefangen hält, und sie daraus befreit. Dieses Märchen endete nicht mit ‚Und wenn sie nicht gestorben sind’, sondern wir spannen es immer weiter. Sie hatten natürlich ein Kind, ein Mädchen, für das der Ritter alles tat, weil er es genau wie seine Gattin vergötterte. Ein Märchen, das uns für eine Weile die Wirklichkeit vergessen ließ. Und dann stand plötzlich eben dieser Ritter vor mir und rettete mir das Leben. Es war eine Giftschlange, die mich gebissen hatte.“
Sie wandte Manuel ihr Gesicht zu und bemerkte, wie er errötete, weil er sich über ihre Angst vor Schlangen lustig gemacht hatte.
„ Meine Mutter war nicht da, also saß er damals tagelang an meinem Krankenbett, bis ich außer Lebensgefahr war. Bis meine maman nach Hause kam. Er liebte sie über alles. Er hat nie aufgehört, sie zu lieben, nicht, als sie ihn von einem Tag auf den anderen verließ und spurlos aus Paris verschwand, und auch dann nicht, als er sieben Jahre auf der Suche nach ihr war. Selbst als er davon erfuhr, was man ihr während dieser Zeit in Afrika angetan hatte.“
„ Ich weiß. Ich kenne die Geschichte. Und nachdem deine Mutter ermordet worden war, hat er sich erneut auf die Suche nach ihr gemacht, weil er sie mehr als sein Leben liebte. Dazu allerdings musste er über den Regenbogen gehen. Und dich allein lassen. Ein kleines, hilfloses Mädchen.“
„ Wenigstens hat er dafür gesorgt, dass ich in Sicherheit und finanziell abgesichert war. Sie haben beide ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um mich aus Afrika wegzubringen. Damit ich überleben konnte. Sie wussten, gemeinsam hätten wir keine Chance gehabt. Deswegen blieb meine Mutter zurück. Und vermutlich haben sie bereits bei unserem Abschied geahnt, dass meine maman … dass sie es nicht schaffen würde. Mein Vater hat sich nie wieder erholt, weder vom Verlust seiner Liebe noch von den physischen Strapazen seiner langjährigen Suche.“
Sie stockte, schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft. „Das hat mich gelehrt, dass ein Mensch, der bedingungslos liebt, nur verlieren kann und dass man zum Überleben sich ausschließlich auf sich selbst verlassen darf. Niemand kann dir dabei helfen.“
„ Deswegen also geht dir Selbständigkeit über alles? Aber sollte die Geschichte deiner Eltern dich nicht ebenfalls lehren, dass die Liebe keine Grenzen kennt? Dass sie Berge versetzen kann und dass sich alles ertragen lässt, wenn man nicht allein ist?“
Er wird nie dein sein, warnte sie ihr Herz. Er wird sich nie binden oder eine Beschneidung seiner Freiheit akzeptieren. Eines Tages wird es zu Ende sein und du bist wieder allein. Sie war zu sehr Realistin, um vor der Wahrheit Augen und Ohren zu verschließen.
Er blickte sie ruhig und offen an und Alicia erkannte etwas in seinen Augen, das sie nicht sehen wollte. Sie hatte ihm mehr erzählt als je einem Menschen zuvor.
Abrupt richtete sie sich auf. „Schon eigenartig, dass ausgerechnet du von Liebe sprichst, findest du nicht? Ich kann mich an Äußerungen aus deinem Mund erinnern, die sich ganz anders angehört haben.“
Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Scheitel. Ganz behutsam ging seine Hand auf Wanderschaft, bis sich Alicia wieder an ihn schmiegte. Er hatte nicht vor, über Liebe zu reden.
Sie offenbar genauso wenig, dachte er schmunzelnd, als ihre Finger sich geschickt an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen machten und ihm schließlich das Hemd von den Schultern streiften. Ihre Lippen zogen eine brennende Spur von seinem Mund über den heftig klopfenden Puls an seinem Hals, bis er leise aufstöhnte. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen, um mit allen Sinnen zu genießen, was sie ihm geben wollte. Im Sessel. Auf dem Teppich.
Bis sie es irgendwann in ihr Bett schafften.
„Ich lasse dich nicht allein“, beteuerte er später, obwohl er wusste, dass sie bereits eingeschlafen war. „Ich gebe dich nicht mehr her. Wir können einander heilen, wenn wir es zulassen.“
Lange Zeit lag er noch wach, lauschte ihrem
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