Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
strapazieren?
„Auch gut. Dann werde ich eben hier auf sie warten“, sagte Manuel mit einer Entschlossenheit in der Stimme, die dem Butler einigen Respekt abnötigte.
Seufzend gab er seiner Vernunft den Abschied, ließ sich auf den Stufen der Freitreppe nieder und verschränkte die Arme über den Knien. Wen störte schon, dass ihn bereits nach wenigen Minuten eine zentimeterhohe Schicht Schnee bedeckte und es höchstens eine Frage der Zeit war, bis er sich den Tod oder eine andere schlimme Krankheit geholt haben würde?
Irgendwann , als er seine Fußzehen schon nicht mehr spürte und er sich mehr als alles andere auf der Welt eine Tasse Kaffee wünschte, öffnete sich erneut die Tür und jemand tippte ihm leicht auf die Schulter.
„Wenn Sie mir bitte in die Bibliothek folgen würden.“ Der Butler neigte würdevoll sein Haupt und trat einen Schritt zur Seite, um den jungen Mann einzulassen. Gemessenen Schrittes durchquerte der Weißhaarige die Halle und öffnete eine zweiflügelige Tür. „Bitte, Mylord, machen Sie es sich bequem. Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, wenn ich das anmerken darf.“
Tadel , Schadenfreude und Verständnis gleichermaßen schwangen in seiner Stimme mit, als er, ein Schmunzeln lediglich mit Mühe unterdrückend, meinte: „Ich hoffe sehr, das verdanken Sie dem schlechten Gewissen, das an Ihnen nagt.“
Wenig später kam er mit einer Kanne Kaffee, einem kleinen Imbiss und deutschen Tageszeitungen zurück. „ Bedienen Sie sich an der Bar und lassen Sie mich wissen, wenn sie noch etwas wünschen, Mylord. Vielleicht käme Ihnen ein heißes Bad gelegen? Sie brauchen nur zu läuten.“
Völlig versunken in die Betrachtung der kleinen Bildergalerie an der Wand zwischen den bis an die Decke reichenden Bücherregalen, nickte Manuel vage.
Auf einem der Fotos stand eine junge Frau mit rotbraunem Haar am Fuße des Eiffelturms. Das musste Beate Schenke sein, Alicias Mutter. Er kannte sie aus dem Fotoalbum seiner Mutter. Ein anderes Bild zeigte einen hoch gewachsenen Mann mit bis auf die breiten Schultern fallendem, schwarzem Haar, der verblüffende Ähnlichkeit mit der seltsamen Erscheinung auf dem Hügel von Sean Garraí hatte. Sollte er tatsächlich mit Alicias Vater gesprochen haben? Einem toten Franzosen in Irland?
Mit einem unsicheren Lachen schüttelte Manuel den Kopf.
Und wenn doch? Wenn die Geschichte, die der Langhaarige zum Besten gegeben hatte, gar kein Märchen gewesen war? Wie ließ sich sonst erklären, dass er Beates Tagebuch in Killenymore gefunden hatte? Alicias Mutter war nie dort gewesen. Alain de la Sicotière dagegen schon. Beate hatte Alain das Tagebuch in Gabun ausgehändigt, damit er es mit nach Frankreich nahm, wo es Adrian und dessen Freund Frithjof Peters gelesen hatten.
Sein Puls beschleunigte sich, als er auf dem nächsten Foto ein kleines Mädchen auf einem Connemara-Pony sitzen sah. Und Matthias Clausing, sein Adoptivvater, führte das Tier am Zügel und schmunzelte vergnügt vor sich hin. Vermutlich hatte ihn Susanne in einem Augenblick erwischt, als er sich unbeobachtet glaubte, denn er platzte geradezu vor Stolz. Grenzenloses Glück und vollkommene Sorglosigkeit sprachen aus seiner Miene, Vorfreude auf das vor ihm liegende Leben mit einer Familie, mit Susanne und den drei Söhnen seines Halbbruders Adrian. An Ena, seine Tochter, war damals noch nicht zu denken gewesen, gleichwohl machte er den Eindruck eines rundum zufriedenen Menschen, der endlich seine Bestimmung gefunden hatte.
In diesem Moment stieg das Bild von einem winzigen Ding aus der Tiefe seiner Erinnerung empor. Sie war gemeinsam mit Lisa über die Wiesen geprescht und er selber rannte laut schreiend mit Damien und Lisas Bruder hinter den Mädchen auf ihren Ponys her.
Seine Alicia. Cat. Damals hatte er gewusst, wer sie war. Er hätte es verdammt noch mal wissen müssen!
Zu jener Zeit war es ihm natürlich peinlich gewesen, sich mit einem Baby abzugeben, obwohl er doch gerade mal ein Jahr älter als Alicia war. Er hatte sie beleidigt und vermutlich nicht einmal bei ihrem Namen genannt. Wie hätte er ihn sonst vergessen können?
Sein Blick fiel auf eine Urkunde, die hinter Glas an der Wand hing. Unwillkürlich zuckte er zusammen, dann lief er rot an, als er den Text las. Alicia de la Sicotière war im Alter von zweiundzwanzig Jahren an der Sorbonne zum Doktor der Mathematik promoviert worden.
Gott, das hatte er nicht gewusst! Nicht einmal das! Wieso hatte er sich nicht die Mühe gemacht ,
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