Der Erdbeerpfluecker
die hier im Ort?«
Meine Mutter nickte. »Und sag jetzt bitte nicht, dass du den Erdbeerbauern für einen modernen Sklaventreiber hältst. Darüber haben wir schon Stunden gestritten.«
Großmutter beendete die Auseinandersetzung, indem sie anfing zu essen. »Dieser Mord«, sagte sie nach der ersten Tasse Kaffee, »der macht mir ganz schön zu schaffen.«
Meine Mutter nickte und sah mich an. »Ich bin froh, dass Jette nach Bröhl gezogen ist. Es wäre mir gar nicht recht, wenn sie im Dunkeln hier in der Gegend unterwegs wäre.«
»Glaubt die Polizei denn, dass der Mörder noch in der Nähe ist?«
Meine Mutter hob die Schultern. »Man weiß ja nicht einmal, ob er überhaupt hier lebt. Die anderen beiden Morde, für die er möglicherweise ebenfalls verantwortlich ist, sind doch in Norddeutschland begangen worden.«
»Also ist es eigentlich egal, wo ich mich bei Dunkelheit herumtreibe«, versuchte ich zu scherzen.
Beide warfen mir einen bösen Blick zu.
»Darüber macht man keine Witze«, wies meine Mutter mich zurecht.
»Ihr fehlt nur deshalb jeder Respekt vor dem Ernst der Lage«, stichelte Großmutter, »weil sie in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem es von Leichen nur so wimmelt.«
»Freundlichen Dank«, sagte meine Mutter spitz.
Beide sind Meisterinnen des Worts, jede auf ihre Weise. Keine ist jemals um eine Antwort verlegen. Ihre Zusammenstöße haben Klasse, aber man kommt ihnen dabei besser nicht in die Quere.
»Was dagegen, wenn ich schnell ein paar Erdbeeren hole?«, fragte ich. »Caro und Merle sind ganz scharf drauf. Ich habe ihnen versprochen, welche mitzubringen.«
Die beiden schüttelten den Kopf. Sie wetzten insgeheim schon die Schnäbel, um ihren Disput fortzusetzen.
Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch und ich beschloss, zu Fuß zu gehen. Edgar lief mir bis zum Ende der Auffahrt nach und blieb dann wie eine Skulptur mitten auf dem Weg sitzen.
Die Mühle war ein gutes Stück vom Dorf entfernt. In früheren Zeiten war sie das Wahrzeichen des Orts gewesen. Alle offiziellen Feste hatten hier stattgefunden. Sie waren auf verblichenen alten Fotos festgehalten, die der Ortsvorsteher meiner Mutter zum Einzug geschenkt hatte.
Das Dorf lag wie verlassen in der Stille des Nachmittags. Es ließ mich spüren, dass ich nicht hier aufgewachsen war und streng genommen nicht dazugehörte. Der alte, fast taube Hund, der immer die kleine Kirche bewachte, schlief so fest, dass er mich nicht bemerkte, als ich vorbeiging.
Die Katzen, die sich auf den Fensterbänken und Treppenstufen der Bauernhöfe räkelten, nahmen mich nicht zur Kenntnis.
Ihre Besitzer hätten sich, wären sie draußen gewesen, nicht viel anders verhalten. Sie hätten mich misstrauisch beäugt, auf meinen Gruß gewartet, ihn mit einem Kopfnicken oder einem Brummen zurückgegeben und dann hinter mir hergestarrt. Eine Mutter, deren Krimis man auf RTL anschauen kann, verschafft einem nicht gerade herzliche Einladungen, ins Dorfleben einzutauchen.
Aber das wollte ich auch gar nicht. Das Dorf gefiel mir. Ich liebte die einfachen, schmucklosen Höfe, die gepflasterten Wege, die versteckten malerischen Winkel, das Geräusch der Traktoren, hatte mich an den Geruch nach Gülle, Schweinen und Hühnern gewöhnt. Ich mochte die weiten Felder, den Duft der Erdbeeren, die Dorfbewohner und sogar ihre zugeknöpfte Art. Solange sie auf Distanz blieben. In ihre kleinlichen Querelen würde ich mich nicht gern verwickeln lassen.
Die Frau, die für meine Mutter putzte, erzählte oft davon. Prügeleien bei Festen, Drohungen, Telefonterror. »Es passieren ja die komischsten Sachen.« So fingen ihre Geschichten immer an.
»Es passieren ja die komischsten Sachen. Neulich, da geh ich zum
Extra
einkaufen und wen treffe ich da?«
Meine Mutter beklagte sich niemals über diese Gespräche. Wenn es sie nicht gäbe, sagte sie oft, müsste man sie erfinden. »Das ist Leben«, sagte sie. »So gut kann Phantasie überhaupt nicht sein.«
Andere Dorfbewohner kamen nicht in die Nähe der Mühle. Die Zeiten hatten sich geändert. Meine Mutter lebte wie auf einer Insel.
Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie allein sie war.
Auch auf dem Hof des Erdbeerbauern war keine Menschenseele zu sehen. Die Mauern warfen lange Schatten. Es war so heiß, dass mir die Haare am Nacken klebten. Ich drückte den Klingelkopf neben dem Fenster des Verkaufsraums und wartete.
Nach einer Weile öffnete sich das Fenster. Ein Mädchen etwa in meinem Alter schaute
Weitere Kostenlose Bücher