Der Erdbeerpfluecker
konnte von einem Moment auf den anderen wieder zu Ende sein.
Und wenn sie Caros Gedichte als Herausgeberin veröffentlichte? Postum? Um ihr wirklich ein Denkmal zu setzen?
Keine Zeit, darüber nachzudenken. Nicht jetzt.
Auch über den Mord an Caro wollte sie nicht nachgrübeln. Das hatte sie schon zu lange getan. Es hatte alle Worte in ihr versiegen lassen. ßber den Mörder wollte sie sich erst recht keine Gedanken machen. Sie hatte Angst davor. Als würde sie so das Schicksal herausfordern und Jette und Merle in Gefahr bringen.
Noch ein paar Seiten, dann würde sie Jette anrufen und sich vergewissern, dass es den Mädchen gut ging. Nur noch ein paar Seiten. Sie hatte so lange darauf gewartet, endlich wieder schreiben zu können.
Wir hatten uns diesen Film verdient.
Den ganzen Nachmittag hatten wir damit verbracht, noch einmal Caros Zimmer zu durchsuchen. Die Polizei war gründlich gewesen, aber sie hatten Caro nicht gekannt. Möglicherweise hatten ihnen Dinge nichts gesagt, die uns sofort auffallen würden.
»Jeder vernünftige Mensch hat Briefe von seinem Lover«, hatte Merle gestöhnt und die Schreibtischschublade zugeschoben. »Warum nicht Caro?«
»Weil sie alles andere als vernünftig war«, sagte ich. Obwohl Merle das so gut wusste wie ich.
Caro war eine Sammlerin gewesen. ßberall hatte sie Nester angelegt, in denen sie Fundstücke aufbewahrt hatte. Knöpfe. Postkarten. Steine. Vogelfedern. Glasperlen. War etwas davon ein Geschenk des Unbekannten? Oder eine Erinnerung an ihn? Oder hätte so was einen besonderen Platz bekommen?
In dem CD-Player steckte noch eine CD von Phil Collins. Die letzte CD, die Caro eingelegt hatte. Wir schauten die einzelnen Songs durch.
Come with me. Driving me crazy. Cant stop loving you. You touch my heart.
Als hätte alles in den letzten Tagen von Caros Leben eine besondere Bedeutung gehabt.
Dabei hatte Caro die Musik von Phil Collins einfach gern gehört. Vielleicht war eins seiner Songs ihr Lied gewesen. Caros und das des Unbekannten. Zu jeder Liebe gehörte doch ein Lied.
DU
wer bist du
lauter
ungefragte fragen
lauter
lieder
nicht gesungen
neun
ungelebte leben
auf deinem mund
ein schrecklich rotes
süßes lächeln
Von Anfang an hatte dieses Gedicht mich erschreckt. Jedes Mal, wenn ich es las oder auch nur daran dachte, zog sich etwas in mir zu einem kleinen harten Kern zusammen.
Ungelebte Leben
. Caro hatte aufhören wollen, ihr Leben zu verschwenden. Und sie war auf dem besten Weg gewesen, es zu schaffen. All die Leben zu leben, nach denen sie Sehnsucht gehabt hatte.
Lauter - Lieder - nicht gesungen.
Was hatte Caro damit gemeint? Dass sie etwas verpasst hatte? Etwas Schönes? Dass er etwas verpasst hatte?
... Und dann dieses
schrecklich rote - süße Lächeln.
Damit kam ich überhaupt nicht zurecht.
Schrecklich rot
- war er ein Transvestit? Mit grell angemalten Lippen? Ging es dabei um ihre Befürchtung, er sei vielleicht schwul?
Unser letztes Gespräch. Es hatte sich um ihn gedreht. Ich hätte besser zuhören sollen. Ich hätte Alarmsignale beachten sollen. Bestimmt hatte es welche gegeben. Sie waren mir bloß nicht aufgefallen.
Allerdings war mir aufgefallen, dass Caro sich wieder verletzte. Aber das war ja nichts Besonderes gewesen. Caro hatte immer Phasen gehabt, in denen sie sich wehtat, und Phasen, in denen sie gut drauf war.
Merle und ich hatten uns daran gewöhnt. Wir hatten aufgehört, Caro mit Fragen zu bombardieren. Vertrauen erzeugt Vertrauen. Daran hatten wir geglaubt. Und es hatte doch funktioniert.
»Warum hat Caro dann nicht über diesen Typen geredet?«
»Aus Angst«, sagte Merle, die CD von Phil Collins noch in der Hand. »Weil er es ihr verboten hatte.«
Verboten! Caro!
»Wenn er das geschafft hat«, sagte ich, »dann muss er ein Magier sein.«
Zum hundertsten Mal rief ich mir mein letztes Gespräch mit Caro ins Gedächtnis zurück. Die freizügige Caro hatte sich in einen Mann verliebt, der sie nicht anrührte. Der einen Haufen Probleme vor sich herwälzte und deshalb warten wollte, bis er sicher war, dass diese Liebe genau das war, was er wollte.
»Kann man jemanden lieben, vor dem man Angst hat?«, fragte ich.
»Du kannst Angst vor jemandem haben, den du liebst«, antwortete Merle.
Wir suchten schweigend weiter. Als wir fertig waren, hatten wir zwei Dinge zu Tage gefördert, die wir nicht kannten, ein schwarzes Baumwolltuch, etwa sechzig mal sechzig Zentimeter groß, und eine
Weitere Kostenlose Bücher