Der Erdbeerpfluecker
gepresste weiße Blüte mit drei gepressten grünen Blättern.
Das Tuch hatte ich unter Caros Wäsche gefunden, die Blüte und die Blätter hatte Merle in Caros Lieblingsbuch entdeckt, einer antiquarischen Ausgabe von Rabindranath Tagores Gedichten. Wir wussten nicht, ob diese Gegenstände eine Bedeutung hatten, aber wir legten sie beiseite mit dem Gefühl, einen Schritt nach vorn gemacht zu haben.
Wir hatten uns also diesen Film verdient. Und das Lachen, an das wir uns erst wieder gewöhnen mussten. Ich dachte an den Satz, den neuerdings alle zu uns sagten: Das Leben geht weiter. So furchtbar es auch war - wir bestätigten ihn gerade.
Was hatte ich erwartet? Dass die Welt aufhören würde, sich zu drehen? »Wir sind wie Ameisen«, flüsterte ich Merle zu. »Flitzen geschäftig durch die Gegend, und es ist völlig egal, ob es uns erwischt oder nicht, weil auch ohne uns alle weiterflitzen.«
»Pscht!« Merle schob mir Popcorn in den Mund.
Sie hatte Recht. Nichts im Leben war sicher. Jeder sollte lachen und Popcorn essen, solange er noch dazu fähig war.
Er konnte nicht verstehen, was sie sich da zuflüsterten. Dabei war er ihnen so nah, dass er die Wärme ihrer Körper spüren konnte, wenn er sich vorbeugte.
»Jette ist ein Geschenk des Himmels«, hatte Caro ihm einmal gesagt. »Ohne sie wär ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.« Sie hatte ihn angelächelt und dabei die Nase gekraust, eine Geste, die ihn immer gerührt hatte. »Oder ich säße jetzt in der Klapse.«
Es war bestimmt nicht der Versuch gewesen, sich interessant zu machen, kein lockeres Gerede, keine Übertreibung. Caro sagte, was sie fühlte, und sie äußerte es ganz selbstverständlich.
Was musst du durchgemacht haben, hatte er gedacht und sie dafür noch mehr geliebt. Längst hatte er bemerkt, dass ihre Arme voller Narben waren, auch wenn sie sich bemühte, sie zu verstecken.
Später hatte sie ihm erlaubt, ihre Arme zu streicheln. Er hatte gewusst, dass sie ihm keinen größeren Liebesbeweis hätte geben können. Trotzdem hatte er noch abwarten wollen. War er noch nicht sicher gewesen. Weil seine Seele aussah wie Caros Arme. ßbersät mit Narben. Seine stammten jedoch nicht von ihm selbst. Die hatten ihm andere zugefügt.
An Merle hatte Caro vor allem ihren Kampfgeist geschätzt und sie dafür bewundert, dass sie sich politisch engagierte. »Für mich ist das total politisch«, hatte sie gesagt, »wenn jemand sich für den Schutz und die Rechte der Tiere einsetzt.«
Er hatte vieles über Caros Mitbewohnerinnen erfahren. Weitaus mehr, als er wissen wollte. Jede einzelne Information hatte Fäden gesponnen, die ihn an Caro gebunden hatten und Caro an ihn.
Ein paarmal hatte er in ihrer Wohnung übernachtet, hatte alle Vorsicht über Bord geworfen. Zuerst war es ein aufreibender Nervenkitzel gewesen, dann war er allmählich ruhiger geworden. Er hatte Caros Zimmer auf sich wirken lassen und ihre Gegenwart.
Sie hatte ihm Gedichte von Rabindranath Tagore vorgelesen. Texte, die ihn tief berührt hatten, obwohl er mit Gedichten eigentlich nichts anfangen konnte. Die Sprache war einfach und einprägsam gewesen, bunt und voller Wirklichkeit. Sie hatte Bilder in seinem Kopf erzeugt und längst verschüttete Erinnerungen angestoßen.
Aus den anderen Zimmern war kein Laut gekommen. Es war schon spät gewesen, die Stadt in Schlaf versunken. Später war er ins Badezimmer geschlichen und hatte sich dort umgeschaut und all die winzigen Flaschen, Dosen, Tiegel und Tuben bewundert, die jede freie Fläche bedeckten.
Er hatte auch einen Blick in die Küche geworfen, in der das reine Chaos herrschte. Das Geschirr von der letzten Mahlzeit stand noch auf dem Tisch. In der Spüle stapelten sich schmutzige Töpfe und Schüsseln. Was zum Kochen gebraucht worden war, lag auf den Arbeitsplatten verstreut.
Trotzdem hatte er diesen Raum gemütlich gefunden. Die Pflanzen auf der Fensterbank strotzten vor Gesundheit. Die Bilder an den Wänden strahlten Fröhlichkeit und Wärme aus.
In der Diele hingen mehrere Collagen mit Fotos von den Bewohnerinnen. Vielleicht, hatte er gedacht, während er vor den Fotos stand, vielleicht können wir eines Tages befreundet sein. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen richtigen Freund gehabt.
Auch Caro hatte sich das gewünscht. »Ich hab einfach Lust, ein bisschen mit dir anzugeben«, hatte sie gesagt. »Findest du das schlimm?«
Es hatte ihn überwältigt, dass sie so stolz auf ihn war.
Die ganze
Weitere Kostenlose Bücher