Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
gut gehe, und hatte ein letztes Mal mit bewundernden Blicken die hoch aufgeschossenen, grobknochigen Männer mit ihrem hellen, zu Zöpfen geflochtenen Haar betrachtet und auch ihren Federkopfschmuck und den Hofpanzer aus mit Federn durchwobenem, silbernem Flechtwerk. Als sie im Kargadreich gelebt hatte, hatte sie nur wenige Männer ihrer eigenen Rasse zu Gesicht bekommen. Nur Frauen und Eunuchen hatten an der Stätte der Gräber gewohnt.
Nach der Zeremonie war sie in die Palastgärten geflüchtet. Die Sommernacht war warm und ruhelos; die blühenden Sträucher der Gärten bewegten sich raschelnd im Nachtwind. Die Geräusche der Stadt außerhalb der Palastmauern waren wie das Murmeln eines stillen Meeres. Ein junges Höflingspaar lustwandelte eng umschlungen unter den Laubengängen. Um sie nicht zu stören, spazierte Tenar zu den Springbrunnen und den Rosen am anderen Ende des Gartens.
Lebannen war erneut mit säuerlicher Miene aus der Audienz gekommen. Was war nur los mit ihm? Soweit sie wusste, hatte er noch nie zuvor gegen die Pflichten seines Amtes aufbegehrt. Er wusste doch, dass ein König heiraten musste und nur wenig echte Auswahl hatte bezüglich der Person, die er freite. Er wusste, dass ein König, der nicht auf sein Volk hörte, ein Tyrann war. Er wusste, dass sein Volk eine Königin haben wollte, dass es nach einem Thronerben verlangte. Aber er hatte bislang nichts dafür getan. Die Damen am Hofe hatten nur zu gern mit Tenar über seine diversen Mätressen getratscht, von denen keine an Ansehen verloren hatte, dass sie als des Königs Geliebte decouvriert worden war. All diese Geschichten hatte er gewiss recht gut gehandhabt, aber er konnte wohl kaum erwarten, dass das ewig so weiterginge. Warum war er so erbost darüber, dass König Thol ihm eine geradezu vollkommen passende Lösung offerierte?
Unvollkommen passend vielleicht. Die Prinzessin stellte ein Problem dar.
Tenar würde versuchen müssen, dem Mädchen Hardisch beizubringen. Und sie würde Hofdamen finden müssen, die gewillt waren, sie in den Sitten und Gebräuchen des Archipels und der Hofetikette zu unterweisen - etwas, dessen sie selbst bestimmt nicht fähig war. Sie hegte mehr Sympathie für die Ignoranz der Prinzessin als für die Weltklugheit der Höflinge.
In ihrem Innern verübelte sie Lebannen sein Versagen oder seine Unfähigkeit, den Standpunkt des Mädchens einzunehmen. Konnte er sich denn nicht in ihre Lage hineinversetzen? Aufgewachsen und großgezogen im Frauenquartier der Festung eines Kriegsherrn in einem abgelegenen Wüstenland, wo sie wahrscheinlich außer ihrem Vater und ihren Onkeln und ein paar Priestern nie einen Mann gesehen hatte; jählings herausgerissen aus dieser freud- und abwechslungslosen Dürftigkeit, ja Starrheit des Lebens, und zwar von Fremden; mitgenommen auf eine lange, Furcht einflößende Seereise, um schließlich zurückgelassen zu werden unter Leuten, die ihr nur als ungläubige und blutrünstige Ungeheuer bekannt waren, welche am fernen Ende der Welt hausten - Leuten, die gar keine richtigen Menschen waren, sondern Zauberer, welche sich in Tiere und Vögel verwandeln konnten ... Und einen davon sollte sie heiraten!
Tenar hatte nur deshalb ihr eigenes Volk verlassen und zu den Ungeheuern und Hexern des Westens kommen können, weil sie mit Ged zusammen gewesen war, den sie liebte und dem sie vertraute. Selbst unter diesen Umständen war es nicht leicht für sie gewesen; oft hatte sie der Mut verlassen. Ungeachtet des überschwänglichen Empfanges, den die Bewohner von Havnor ihr bereitet hatten, ungeachtet der Jubelrufe der Massen, der Blumen, die sie ihr gestreut hatten, des Lobpreises, mit dem sie sie bedacht hatten, der wohlklingenden Namen, die sie ihr verliehen hatten: die Weiße Dame, die Friedensbringerin, Tenar vom Ringe - all dessen ungeachtet hatte sie in jenen Nächten vor langer Zeit in ihrem Zimmer im Palast gekauert, unglücklich, weil sie so einsam war und niemand ihre Sprache sprach und sie keines von den Dingen wusste, die sie alle wussten. Sobald die Freudenbezeigungen vorüber gewesen waren und der Ring an seinem Platz gewesen war, hatte sie Ged gebeten, dass er sie fortbringe, und er hatte sein Versprechen gehalten und war mit ihr nach Gont entschlüpft. Dort hatte sie im Haus des Alten Magiers als Ogions Mündel und Schülerin gelebt und gelernt, eine Bewohnerin des Archipels zu werden, bis sie schließlich den Weg vor sich gesehen hatte, den sie als erwachsene Frau einschlagen
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