Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
Sterne stillstanden, in dem es keine Macht in der Hand eines Mannes gab und keinen rechten Weg, den man gehen konnte, weil kein Weg irgendwohin führte.
Während er dalag und zu den Sternen hinaufblickte, lenkte er seinen Geist bewusst von jenen Erinnerungen und von dem Gedanken an Ged fort. Er dachte stattdessen an Tenar, an den Klang ihrer Stimme, die Berührung ihrer Hand. Höflinge waren steif und förmlich und achteten peinlich darauf, wie und wann sie den König berührten. Nicht so Tenar. Sie legte ihre Hand auf seine und lachte dabei. Sie benahm sich freier und kecker ihm gegenüber, als seine Mutter es getan hatte.
Rose, die Prinzessin des Hauses von Enlad, war vor zwei Jahren am Fieber gestorben, während er an Bord seines Schiffes weilte, auf dem Weg zu einem königlichen Besuch der Stadt Berila auf Enlad und der Inseln südlich davon. Er hatte erst von ihrem Tod erfahren, als er in eine Stadt und ein Haus in Trauer gekommen war.
Seine Mutter war jetzt dort in dem dunklen Land, dem trockenen Land. Wenn er dorthin käme und auf der Straße an ihr vorüberginge, würde sie ihn nicht anschauen. Sie würde nicht mit ihm sprechen.
Er ballte die Fäuste. Energisch schüttelte er die Kissen seines Bettes auf und ordnete sie neu, versuchte, es sich behaglich zu machen, seinen Geist von dort loszureißen, an Dinge zu denken, die ihn davon abhalten würden, wieder dorthin zurückzugehen. An seine Mutter zu denken, als sie noch lebte, ihre Stimme, ihre dunklen Augen unter den dunklen, geschwungenen Brauen, ihre zierlichen, feingliedrigen Hände.
Oder an Tenar zu denken. Er wusste, dass er Tenar nicht nur nach Havnor gebeten hatte, um sich Rat bei ihr zu holen, sondern weil sie die Mutter war, die ihm geblieben war. Er wollte diese Liebe, wollte sie spenden und empfangen. Die rücksichtslose Liebe, die keine Nachsicht übt, keine Bedingungen stellt. Tenars Augen waren grau, nicht dunkel, aber sie schaute geradewegs durch ihn hindurch, mit einer alles durchdringenden Zärtlichkeit, die sich von nichts, was er sagte oder tat, täuschen ließ.
Er wusste, dass er das, wozu er berufen worden war, gut machte. Er wusste, dass er gut darin war, König zu spielen. Doch nur bei seiner Mutter und bei Tenar hatte er je ohne den leisesten Selbstzweifel gewusst, was es bedeutete, König zu sein.
Tenar kannte ihn, seit er sehr jung gewesen war, noch nicht gekrönt. Sie hatte ihn damals geliebt und liebte ihn noch immer, um seinetwillen, um Geds willen und um ihretwillen. Er war für sie der Sohn, der einem niemals das Herz brach.
Doch sie dachte im Stillen, dass ebendies ihm womöglich doch noch gelänge, wenn er nicht aufhörte, so wütend und unehrlich wegen dieses armen Mädchens aus Hur-at-Hur zu sein.
Sie war bei der letzten Audienz der Emissäre aus Awabath zugegen gewesen. Lebannen hatte sie darum ersucht, und sie hatte sich gefreut, dabei sein zu können. Als sie Kargs bei Hofe vorgefunden hatte, als sie zu Beginn des Sommers dort eingetroffen war, hatte sie erwartet, dass diese ihr aus dem Weg gehen oder sie zumindest schief ansehen würden: die Renegatenpriesterin, die im Verein mit dem diebischen Sperber-Magier den Ring Erreth-Akbes aus der Schatzkammer der Gräber von Atuan gestohlen hatte und treulos damit nach Havnor geflüchtet war. Sie war schuld daran, dass das Archipel wieder einen König hatte. Es wäre nur allzu verständlich, wenn die Kargs ihr all dies verübelten.
Und Thol von Hur-at-Hur hatte den Kult der Zwillingsgötter und der Namenlosen wieder errichtet, deren größten Tempel Tenar zerstört hatte. Ihr Verrat war nicht nur ein politischer, sondern auch ein religiöser gewesen.
Aber das war lange her, vierzig Jahre und mehr, fast schon Legende; und Staatsmänner erinnerten sich solcher Ereignisse in der Regel selektiv. Thols Botschafter hatte um die Ehre einer Audienz bei ihr nachgesucht und war ihr mit erlesen frommem Respekt entgegengetreten, den sie zum Teil als echt empfunden hatte. Er hatte sie Lady Arha genannt, die Verzehrte, die Wiedergeborene. Sie war seit Jahren nicht mehr mit solchen Beiwörtern bedacht worden, und sie hatten sehr fremd in ihren Ohren geklungen. Aber es hatte ihr eine große, wenngleich wehmütige Freude bereitet, ihre Muttersprache zu hören und festzustellen, dass sie sie immer noch sprechen konnte.
Daher war sie gekommen, dem Botschafter und seinem Gefolge Lebewohl zu sagen. Sie hatte ihn gebeten, dem Hohen König der Kargs zu versichern, dass es seiner Tochter
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