Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
vom Hause Havnor, sagte der König.
Als Nächstes folgte ein Mann von etwa vierzig, der einen hölzernen Stab von der Länge seines eigenen Körpers trug, anhand dessen Erle ihn als einen Zauberer der Schule von Rok identifizierte. Er hatte ein ziemlich abgehärmtes Gesicht, schöne, zierliche Hände und ein zurückhaltendes, aber höfliches Auftreten. Meister Onyx, sagte der König.
Letzte in der Reihe war eine Frau, die Erle für eine Dienerin hielt, weil sie sehr einfach gekleidet war und ein wenig abseits der Gruppe stand, halb abgewandt, als blickte sie aus den Fenstern. Er sah den wunderschönen, geschmeidigen Schwung ihres schwarzen Haars, schwer, dicht und glänzend wie fallendes Wasser, als Lebannen sie zu ihm führte. »Tehanu von Gont«, sprach der König, und seine Stimme scholl wie eine Aufforderung.
Die Frau schaute Erle einen Moment lang direkt ins Gesicht. Sie war jung. Die linke Seite ihres Gesichts war glatt und von einem sanften, ins Kupferfarbene spielenden Rosa, mit einem dunklen, leuchtenden Auge unter einer fein geschwungenen Braue. Die rechte Seite war zerstört, von Narben zerklüftet, augenlos. Ihre rechte Hand gemahnte an die Kralle eines Raben.
Sie streckte Erle die Hand hin, nach der Art der Leute von Ea und den Enladen, wie es auch die anderen getan hatten, nur dass sie anstelle der rechten ihre linke Hand darbot. Er berührte ihre Hand mit der seinen, Innenfläche auf Innenfläche. Ihre war heiß, fieberheiß. Sie sah ihn erneut an, mit einem erstaunlichen Blick aus ihrem einen Auge, leuchtend, finster, grimmig. Dann senkte sie den Blick wieder und trat zurück, als wollte sie nicht eine von den anderen sein, als wünschte sie nicht dort zu sein.
»Meister Erle hier hat eine Botschaft für dich von deinem Vater, dem Sperber von Gont«, sagte der König, als er den Überbringer der Botschaft sprachlos dastehen sah.
Tehanu hob nicht den Kopf. Das glänzende schwarze Haar verdeckte fast völlig ihre zerstörte Gesichtshälfte.
»Meine Dame«, sagte Erle mit trockenem Mund und belegter Stimme, »er hieß mich Euch zwei Fragen stellen.« Er hielt inne, um seine Lippen zu befeuchten und Luft zu holen, gepackt von einer jäh aufwallenden Panik, er könnte vergessen haben, was er sagen sollte.
»Stellt sie«, brach Tehanu das Schweigen. Ihre Stimme klang noch heiserer als seine.
»Er meinte, ich solle als Erstes fragen: Wer sind die, die nach dem trockenen Land gehen? Und als ich von ihm schied, sagte er: >Frag meine Tochter auch: Wird ein Drache die steinerne Mauer überqueren ?<«
Tehanu nickte bestätigend und trat noch ein Stück weiter zurück, gleich als wollte sie ihre Rätsel mit sich davontragen, weg von ihnen.
»Das trockene Land«, sagte der König, »und die Drachen ...«
Sein wacher Blick wanderte vom einen zum ändern.
»Kommt«, sagte er, »setzen wir uns und reden.«
»Vielleicht könnten wir unten im Garten reden?«, schlug Tenar, die kleine, grauhaarige Frau, vor. Der König willigte sofort ein. Erle hörte, wie Tenar zu ihm sagte, während sie hinuntergingen: »Es fällt ihr schwer, den ganzen Tag drinnen zu bleiben. Sie sehnt sich nach dem Himmel.«
Gärtner brachten Stühle und stellten sie im Schatten eines großen alten Weidenbaumes neben einem der Weiher auf. Tehanu stellte sich an den Weiher und schaute hinunter in das grüne Wasser, in dem ein paar große Silberkarpfen träge umherschwammen. Gewiss wollte sie über die Botschaft ihres Vaters nachsinnen und selbst nichts sagen, auch wenn sie alles hören konnte, was gesprochen wurde.
Als die anderen allesamt Platz genommen hatten, bat der König Erle, seine Geschichte noch einmal zu erzählen. Das Schweigen der Zuhörer war mitfühlend, und Erle konnte seine Erlebnisse in aller Ruhe schildern, ohne Druck oder Hast. Als er geendet hatte, blieben die anderen noch eine ganze Weile stumm, bis schließlich der Zauberer Onyx ihm eine einzige Frage stellte: »Habt Ihr letzte Nacht geträumt?«
Erle antwortete, dass er keinen Traum gehabt habe, an den er sich erinnern könne.
»Ich aber«, sagte Onyx. »Ich träumte von dem Meister des Gebietens, der an der Schule auf Rok mein Lehrer war. Es heißt von ihm, er sei zweimal gestorben: weil er von jenem Land jenseits der Mauer zurückgekommen sei.«
»Ich träumte von den Geistern, die nicht wiedergeboren werden«, sagte Tenar sehr leise.
Prinz Sege sagte: »Und ich glaubte die ganze Nacht, Stimmen unten in den Straßen der Stadt zu hören, Stimmen, die ich aus
Weitere Kostenlose Bücher