Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
wieder geschieden, da sackte der Meister des Gebietens in sich zusammen und lag da, als ob das Leben aus ihm gewichen wäre. Der Meister der Kräuterkunde wähnte ihn tot. Als wir uns jedoch rüsteten, ihn zu bestatten, da rührte er sich und sprach, er sei ins Leben zurückgekehrt, um zu tun, was getan werden müsse. Und da wir keinen neuen Erzmagier küren konnten, leitete Thorion, der Gebieter, fortan die Schule.« Er hielt inne. »Als das Mädchen kam, wollte Thorion, wiewohl der Türwächter es eingelassen hatte, es nicht auf dem Gelände dulden. Er wollte nichts mit ihm zu schaffen haben. Aber der Meister der Formgebung brachte es zum Hain, und es lebte dort eine Zeit lang am Rande desselben. Er, der Türwächter und auch der Meister der Kräuterkunde sowie Kurremkarmerruk, der Namengeber, waren überzeugt, dass es einen Grund gebe, warum die junge Frau nach Rok gekommen war, dass sie eine Vorbotin oder ein Werkzeug irgendeines großen Ereignisses sei, auch wenn sie es selbst nicht wusste; und so gewährten sie ihr Schutz. Die anderen Meister hingegen folgten Thorion, der meinte, sie bringe nur Zwietracht und Unheil und sei daher zu vertreiben. Ich war damals Student. Es bereitete uns großen Kummer, dass unsere Meister - ohne eigenen Meister -miteinander in Streit lagen.«
»Und das auch noch wegen eines Mädchens«, meinte Tosla.
Diesmal war der Blick, den Onyx dem Schiffer zuwarf, voll eisiger Kälte. »Durchaus«, sagte er. Nach einer Minute des Schweigens fuhr er mit seiner Geschichte fort. »Um es kurz zu fassen: Als Thorion dann schließlich eine Gruppe von uns aussandte, sie zum Verlassen der Insel zu zwingen, forderte sie ihn auf, sich mit ihr am selben Abend auf dem Rokkogel zu treffen. Er kam und rief sie bei ihrem Namen und forderte sie auf, ihm zu gehorchen. >Irian<, rief er sie. Aber sie sprach: >Ich bin nicht nur Irian!< Und indem sie sprach, verwandelte sie sich. Sie wurde ... sie nahm die Gestalt eines Drachen an. Sie berührte Thorion, und sein Körper zerfiel zu Staub. Dann erklomm sie den Hügel, und wir, die wir dastanden und schauten, wussten nicht, ob wir ein Weib sahen, das wie eine Feuersbrunst loderte, oder eine geflügelte Bestie. Doch auf der Kuppe sahen wir sie deutlich: ein Drache wie eine Flamme von rotem und güldenem Feuer. Und sie schwang sich auf in die Lüfte und flog nach Westen.«
Seine Stimme war ganz leise geworden, und sein Gesicht war voller Ehrfurcht. Keiner sagte ein Wort.
Der Zauberer räusperte sich. »Bevor sie auf den Hügel stieg, fragte der Namengeber sie, wer sie sei. Sie antwortete, sie wisse ihren anderen Namen nicht. Auch der Meister der Formgebung sprach mit ihr. Wohin sie gehe, fragte er sie, und ob sie zurückkommen werde. Sie sagte, sie gehe jenseits des Westens, um ihren Namen von ihrem eigenen Volk zu erfahren, doch wenn er sie riefe, würde sie kommen.«
In die darauf einsetzende Stille hinein sprach eine heisere, leise Stimme, die klang, als riebe Metall an Metall. Erle verstand die Worte nicht, und doch kamen sie ihm vertraut vor, so als könnte er sich fast daran erinnern, was sie bedeuteten.
Tehanu war dicht an den Zauberer herangetreten und stand jetzt neben ihm, über ihn gebeugt, straff wie ein gespannter Bogen. Sie war es, die gesprochen hatte.
Verblüfft starrte der Zauberer sie an, stand auf, wich einen Schritt zurück, fand seine Fassung wieder und sagte: »Ja, das waren ihre Worte: Mein Volk, jenseits des Westens.«
»Ruf sie. Oh, ruf sie«, sagte Tehanu fast flüsternd und streckte beide Hände nach ihm aus. Wieder wich er unwillkürlich zurück.
Tenar stand auf und murmelte leise zu ihrer Tochter: »Was ist, Tehanu, was ist?«
Tehanu starrte sie der Reihe nach an. Erle fühlte sich, als wäre er ein Geist, durch den sie hindurchschaute. »Ruft sie hierher«, sagte sie. Sie schaute den König an. »Kannst du sie rufen?«
»Ich verfüge nicht über eine solche Macht. Vielleicht der Formgeber von Rok - vielleicht du selbst...«
Tehanu schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, nein, nein«, sagte sie leise. »Ich bin nicht wie sie. Ich habe keine Schwingen.«
Lebannen blickte Rat suchend zu Tenar. Tenar schaute ihre Tochter traurig an.
Tehanu drehte sich um und wandte sich an den König. »Es tut mir Leid«, sagte sie steif in ihrer leisen, rauen Stimme. »Ich muss allein sein, Herr. Ich werde darüber nachdenken, was mein Vater gesagt hat. Ich werde versuchen, seine Fragen zu beantworten. Aber ich muss allein sein,
Weitere Kostenlose Bücher