Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
großen, hellgrauen Kuppel über den im Dunst liegenden Sommerhügeln. Als er den pelnischen Hexer sagen hörte: »Es könnte sein, dass selbst der Erzmagier die Wunde in der Welt nicht gänzlich heilen kann«, kam er wieder zu sich.
Die Wunde in der Welt, dachte Erle: ja. Er schaute Seppel eingehender an, und Seppel warf ihm einen Blick zu. Bei all dem sanften Äußeren des Mannes waren seine Augen gleichwohl scharf.
»Vielleicht ist es nicht nur unser Verlangen danach, ewig zu leben, das die Wunde offen gehalten hat«, meinte Seppel, »sondern auch das Verlangen der Toten danach, zu sterben.«
Wieder hörte Erle die seltsamen Worte und hatte das Gefühl, als würde er sie wiedererkennen, ohne sie zu verstehen. Und wieder schaute Seppel ihn an, als erheischte er eine Antwort.
Erle schwieg, und auch Onyx machte keine Anstalten, das Wort zu ergreifen. Schließlich sagte Seppel: »Wenn Ihr an der Mauer steht, Meister Erle, worum bitten sie Euch dann?«
»Frei zu sein«, antwortete Erle, fast im Flüsterton.
»Frei«, echote Onyx.
Wieder herrschte Schweigen. Zwei Mädchen und ein Knabe rannten vorbei, lachend und schreiend: »Runter an der nächsten!« Sie spielten eines der unzähligen Nachlaufspiele, zu denen die Stadt mit ihrem Gewirr aus Straßen, Kanälen, Stiegen und Brücken Kinder geradezu einlud.
»Vielleicht war es von Anfang an ein schlechter Tausch«, sagte Seppel, und als Onyx ihn fragend anschaute, erklärte er: »Verw nadan.«
Erle wusste, dass es sich um Wörter aus der Alten Sprache handelte, aber er kannte ihre Bedeutung nicht.
Er schaute zu Onyx, dessen Gesicht sehr ernst war. Onyx sagte nur: »Nun, hoffentlich sind wir in der Lage, zur Wahrheit dieser Dinge vorzudringen, und zwar bald!«
»Auf dem Hügel, wo die Wahrheit ist«, meinte Seppel.
»Ich bin froh, dass Ihr mit uns kommt. Doch es geht auch um Erle, der Nacht um Nacht zu der Mauer gerufen wird und eine kleine Atempause sucht. Ich habe ihm gesagt, Ihr wüsstet vielleicht einen Weg, ihm zu helfen.«
»Und Ihr würdet die Berührung mit der Zauberkunst von Paln dulden?«, fragte Seppel Erle. In seinem Ton schwang leise Ironie mit. Seine Augen waren leuchtend und hart wie Pech.
Erles Lippen waren trocken. »Meister«, sagte er, »auf meiner Insel kennt man ein Sprichwort: >Der Ertrinkende fragt nicht, was das Seil kostete Wenn Ihr mich vor diesem Ort bewahren könntet, und sei's auch nur für eine Nacht, habt Ihr meinen herzlichen Dank, so wenig er auch wert ist als Entgelt für ein solches Geschenk.«
Onyx sah ihn mit einem amüsierten, nachsichtigen Lächeln an.
Seppel lächelte überhaupt nicht. »Dank ist selten in meinem Metier«, sagte er. »Ich würde einiges für ihn tun. Aber ich glaube, ich kann Euch helfen, Meister Erle. Allerdings muss ich Euch sagen, das Seil ist teuer.«
Erle senkte den Kopf.
»Ihr kommt zu dieser Mauer im Traum nicht aus Eurem freien Willen, nicht wahr?«
»Das glaube ich zumindest.«
»Klug gesprochen.« Seppel schaute ihn mit beifälligem Blick an. »Wer kennt seinen eigenen Willen schon genau? Aber wenn Ihr im Traum dorthin geht, kann ich Euch vor diesem Traum bewahren - für eine Weile wenigstens. Und es kostet etwas, wie ich bereits sagte.«
Erle sah ihn fragend an.
»Euer Talent, Eure Macht.«
Erle verstand ihn zuerst nicht. Dann sagte er: »Meine Begabung, meint Ihr? Meine Kunst?«
Seppel nickte.
»Ich bin bloß ein Heiler, ein Flicker«, sagte Erle nach einer kleinen Weile. »Es ist wahrlich keine große Macht, die ich da aufzugeben hätte.«
Onyx machte Anstalten, als wollte er Einwände erheben, aber er schaute in Erles Gesicht und sagte nichts.
»Es ist Euer Leben«, sagte Seppel.
»Es war einmal mein Leben. Aber das ist vorbei.«
»Vielleicht wird Eure Gabe zu Euch zurückkehren, wenn das, was geschehen muss, geschehen ist. Ich kann es jedoch nicht versprechen. Ich werde versuchen, Euch so viel wie möglich von dem, was ich Euch nehme, wiederzugeben. Aber wir wandeln jetzt alle in der Nacht, auf Gelände, das wir nicht kennen. Wenn der Tag kommt, werden wir vielleicht wissen, wo wir sind, vielleicht aber auch nicht. Wohlan, wenn ich Euch nun Euren Traum erspare, zu dem Preis, den ich Euch genannt, werdet Ihr mir dann immer noch danken?«
»Das werde ich«, gelobte Erle. »Was ist das kleine Gute an meiner Gabe verglichen mit dem großen Bösen, das meine Ignoranz anrichten könnte? Wenn Ihr mir die Furcht erspart, in der ich jetzt lebe, die Furcht, dass ich dieses Böse
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