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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Wassertropfens im Meer kennen.«
    Ged seufzte manchmal auch, aber er beklagte sich nie. Er wußte, daß hinter dieser öden, endlosen Namenlernerei jedes Ortes, Dinges und Wesens die Macht lag, die er begehrt; er sah sie wie ein Juwel auf dem Grund eines tiefen trockenen Brunnens funkeln. Denn die Essenz der Magie lag hier, im Wissen um den wahren Namen eines Dinges. Kurremkarmerruk sprach ein einziges Mal darüber, damals als sie ihre erste Nacht im Turm verbrachten; nie wieder hatte er es seither erwähnt. Ged hatte seine Worte nicht vergessen. »Mancher Magier verbrachte sein ganzes Leben damit, den wahren Namen eines einzigen Dinges herauszufinden – einen einzigen Namen, der verlorenging oder verborgen war. Trotzdem sind die Namenreihen noch nicht zu Ende, und sie werden es auch nicht sein, solange die Erde besteht. Hört zu, und dann werdet ihr verstehen, warum das so ist: Auf dieser Welt und in der Welt, wohin kein Sonnenstrahl fällt, gibt es viele Dinge, die weder mit Menschen noch mit der menschlichen Sprache etwas zu tun haben, und es gibt Dinge, die außerhalb unserer Machtsphäre liegen. Aber Magie, wahre Magie, wird nur von denen ausgeübt, die das Hardisch der Erdsee sprechen oder die Ursprache, aus der es stammt.
    Das sind die Sprache der Drachen und die Sprache Segoys, der die Inseln dieser Welt schuf, und es ist auch die Sprache unserer Lieder und Epen und unserer Zauber- und Bannsprüche. Die Worte dieser Sprache sind versteckt in unserem Hardisch. Den Wellenschaum zum Beispiel nennen wir Sukien; das Wort besteht aus zwei Wörtern der Ursprache, aus ›Suk‹, die Feder, und aus ›Inien‹, die See; zusammengesetzt ergibt dies ›Feder der See‹, und das ist nichts anderes als Wellenschaum. Aber Wellenschaum bleibt Wellenschaum, wenn man ihn Sukien nennt; um ihn zu verändern, muß man seinen wahren Namen in der Ursprache kennen, und er ist Essa. Jedes Zauberweib kennt ein paar von diesen Worten, ein Magier kennt viele Namen. Aber es gibt viel mehr. Manche gingen verloren im Laufe der Zeit, andere sind irgendwo versteckt; manche sind nur den Drachen und den Urmächten der Erde bekannt, und es gibt auch welche, die keinem Lebewesen bekannt sind. Niemand kennt sie alle, denn diese Sprache ist ohne Ende.
    Und das ist der Grund dafür: Der Name des Meeres ist Inien, stimmt’s? Nun gut! Aber was wir hier das Innenmeer nennen, hat seinen eigenen Namen in der Ursprache. Da aber kein Ding zwei Namen haben kann, bedeutet Inien die ganze See – außer dem Innenmeer. Und natürlich stimmt das auch nicht, denn es gibt unzählige Gewässer, Buchten, Meerengen und so fort, die alle ihre eigenen Namen haben. Ist nun ein Magier verrückt genug, um einen Sturm oder eine Stille im ganzen Ozean wirken zu wollen, dann muß er nicht nur den Namen Inien aussprechen, sondern den Namen von jedem Stückchen und jedem Teilchen im ganzen Inselmeer und in den äußeren Bereichen bis dorthin, wo es gar keine Namen mehr gibt. Und so kann man wohl sagen, daß uns zwar die Macht verliehen ist, Magie zu wirken, daß dieser Macht aber Grenzen gesetzt sind. Nur das Naheliegende, nur das Gutbekannte können von einem Magier beeinflußt werden. Und das ist auch gut so, denn die Bosheit des Mächtigen und die Einfalt des Weisen hätten schon längst versucht, das zu ändern, was nicht verändert werden soll, und das Gleichgewicht wäre gestört … Eine aus dem Gleichgewicht geratene See aber würde die Inseln überschwemmen, auf denen wir so schutzlos leben, und in abgrundtiefer Stille würden alle Stimmen und Namen untergehen.«
    Ged dachte lange nach über diese Worte, und sie prägten sich ihm tief ein. Aber das darin enthaltene Große und Erhabene machten das Lernen, das in diesem langen Jahr im Turm auf ihn wartete, nicht weniger mühselig. Am Ende des Jahres sagte Kurremkarmerruk zu ihm: »Du hast einen guten Anfang gemacht.« Mehr sagte er nicht. Zauberer sprechen immer die Wahrheit, und Ged wußte, daß das Beherrschen der Namen, um das er sich ein Jahr lang so schwer plagte, nur der Anfang war. Er wußte, daß er sein ganzes Leben lang würde lernen müssen. Er durfte früher als die anderen den Turm verlassen, denn er hatte schneller als sie gelernt. Darin bestand seine ganze Belohnung, ein anderes Lob bekam er nicht.
    Es war früh im Winter, als er allein über die windgefegten leeren Straßen nach Süden über die Insel pilgerte. Als es dunkel wurde, begann es zu regnen. Keine Zauberformel stand ihm zur Verfügung,

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