Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
es vermochte. Er war durchgefroren und todmüde, die Hände und Arme schmerzten ihn, und er fühlte, daß er keine Kraft mehr besaß. Er sehnte sich danach, sich niederzulegen, tief unten, wo sich Berg und Meer trafen, und zu schlafen, immerfort zu schlafen, dort unten auf dem ewig schaukelnden Wasser.
Er vermochte nicht festzustellen, ob seine Erschöpfung von dem fliehenden Schatten ausging, ob sie von der eisigen Berührung herrührte oder ob die Ursache ganz einfach Hunger, Schlaflosigkeit und Kräfteverlust waren. Aber gleichgültig, woher sie stammte, er kämpfte dagegen an und zwang sich, einen leichten magischen Wind aufzubringen und dem Schatten über die schmale dunkle Bucht zu folgen, durch die er geflohen war.
Aller Schrecken war vorbei, alle Kampflust war vergangen. Die Jagd war vorüber. Er war kein Verfolger und kein Verfolgter mehr. Zum dritten Mal waren sie zusammengestoßen und hatten sich berührt. Er hatte sich aus eigenem Antrieb gegen den Schatten gewandt und versucht, ihn zu ergreifen und festzuhalten. Nun bestand zwischen ihnen ein unzerreißbares Band, eine Verbindung, die keine schwache Stelle besaß. Er brauchte dem Schatten nicht mehr nachzujagen, er mußte seine Fährte nicht mehr suchen, auch der Schatten konnte nicht mehr davoneilen. Keiner von beiden konnte entfliehen. Zeit und Ort ihres letzten Zusammentreffens waren bestimmt, und wenn sie wieder aufeinanderträfen, würde es zum letzten Kampf kommen.
Aber bis zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Frieden für Ged, weder bei Tag noch bei Nacht, weder auf dem Land noch auf der See. Jetzt wußte er – und das Wissen war bitter –, daß seine Aufgabe nicht darin bestand, das Getane wiedergutzumachen, sondern das Begonnene zu vollenden.
Er segelte durch das dunkle Felsentor hinaus aufs Meer, auf dem der helle, weite Morgen lag. Ein mäßiger Wind blies aus dem Norden.
Er trank das restliche Wasser, das noch im Seehundfell war, und steuerte um das westliche Vorgebirge herum und in eine breite Meeresstraße hinein, die das Vorgebirge von einer zweiten Insel weiter westlich trennte. Jetzt wußte er, wo er sich befand. Er erinnerte sich an die Seekarten des Ostbereiches. Dies hier waren die Hände, zwei Inseln, die ihre gebirgigen Finger nach Norden gegen Kargad streckten. Zwischen den beiden Inseln segelte er, und als sich gegen Nachmittag Wetterwolken im Norden zusammenzogen, ging er an der Südküste der westlichen Insel an Land. Er hatte ein kleines Dorf erspäht, das oberhalb des Strandes an einem Bach lag, der munter den Berg herunterplätscherte und sich in die See ergoß. Es war ihm gleichgültig, wie man ihn dort aufnahm. Er sehnte sich nur nach frischem Wasser, der Wärme des Feuers und nach Schlaf.
Die Dorfbewohner waren einfache, schlichte Leute, beeindruckt vom Zauberstab, mißtrauisch jedem Fremden gegenüber, aber gastfreundlich zu einem, der allein übers Meer zu ihnen kam und vor einem Sturm Schutz suchte. Sie boten ihm Fleisch und Trank an, soviel er wollte, und sie räumten ihm einen Platz am Feuer ein, sprachen mit ihm in seiner eigenen Sprache, und was am allerbesten war: Sie gaben ihm heißes Wasser, das die Kälte aus seinen Gliedern und das Salz von seiner Haut wusch, und sie bereiteten ihm ein Bett für die Nacht.
Iffisch
GED VERBRACHTE DREI TAGE in dem Dorf auf der Westhand und erholte sich, während er ein Boot zurechtzimmerte – diesmal nicht aus Treibholz und Zauberworten, sondern aus gutem Holz –, das fest gefugt und abgedichtet war, das einen starken Mast mit einem Segel aus echter Leinwand hatte, das sich leicht segeln ließ und in dem er, wenn es nottat, auch schlafen konnte. Wie fast alle Boote des Nordens war es klinkergebaut, mit sich überlappenden Planken, die dem Boot Stärke verliehen, so daß es auch auf hoher See gesegelt werden konnte; alles an dem Boot war gut und sorgfältig gezimmert. Ged verstärkte es mit magischen Worten, die er tief ins Holz einwob, denn er vermutete, daß er darin noch weit segeln mußte. Es war groß genug für zwei oder drei Erwachsene, und der frühere Besitzer erzählte, daß das Boot ihn und seine Brüder auf hoher See und durch schwere Stürme sicher getragen habe.
Ganz im Gegensatz zu dem habgierigen Fischer auf Gont hatte dieser alte Mann, aus Ehrfurcht vor Geds Zauberkunst, ihm das Boot geschenkt. Doch Ged entschädigte ihn auf des Zauberers eigene Weise: Er heilte ihn vom grauen Star, der ihm schon viel von seinem Sehvermögen geraubt hatte. Der alte
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