Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
ein Stück dunkles Metall, ein Schmuckstück, die Hälfte eines zerbrochenen Ringes. Ged schaute es an, aber sie ließ ihm keine Ruhe und war erst befriedigt, als er es annahm, dann nickte sie und lächelte wieder: Jetzt hatte sie ihm ein Geschenk gemacht. Doch das Kleid wickelte sie sorgfältig in die Lumpenhülle und humpelte zur Hütte zurück, um das prächtige Gewand wieder zu verstecken.
Ged steckte den zerbrochenen Ring mit der gleichen Sorgfalt in sein Wams. Sein Herz war voll Mitleid. Jetzt ahnte er, wer diese beiden sein konnten: die Kinder irgendeines königlichen Hauses des Kargadreiches, die ein Tyrann oder ein Usurpator, der Angst gehabt hatte, königliches Blut zu vergießen, auf dieser winzigen Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, ausgesetzt und sie dort, weit weg von Karego-At, ihrem Schicksal überlassen hatte. Das eine war ein acht- oder zehnjähriger Junge, das andere ein rundliches Kleinkind, eine in Seiden und Perlen gehüllte Prinzessin gewesen, und sie waren nicht gestorben, sondern hatten weitergelebt, allein und einsam, vierzig oder fünfzig Jahre lang, auf einem Felsen mitten im weiten Ozean – ein Prinz und eine Prinzessin der Trostlosigkeit.
Aber erst Jahre später, als Ged auf seiner Suche nach dem Ring von Erreth-Akbe in kargische Lande und zu den Gräbern von Atuan kam, wurde seine Vermutung bestätigt.
Geds dritte Nacht auf der Insel lichtete sich zu einem ruhigen, bleichen Sonnenaufgang. Es war der Tag der Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres. Sein kleines Boot aus Holz und Magie, aus Überresten und Zauberformeln lag bereit. Er hatte versucht, die beiden Alten zu bewegen, mit ihm zu kommen. Er hätte sie gern in ein anderes Land, nach Spevy, Gont oder Torriklen mitgenommen, er hätte sie sogar an irgendeiner einsamen Küste von Karego-At abgesetzt, wenn sie ihn darum gebeten hätten, obwohl es für einen Bewohner des Inselreiches gefährlich war, sich in kargische Gewässer zu wagen. Aber sie wollten ihr unfruchtbares Inselchen nicht verlassen. Die alte Frau schien seine Gesten und seine ruhigen Worte nicht zu verstehen, der alte Mann verstand ihn und schüttelte hartnäckig den Kopf. Seine Erinnerung an andere Länder und andere Menschen bestand aus den Angstträumen eines Kindes: Träumen aus Blut, Riesen und Angstschreien. Ged konnte es in seinem Gesicht, in seinen Augen lesen, als er sich beharrlich weigerte, mitzukommen.
So kam es, daß Ged an diesem Morgen, nachdem er seinen Behälter aus Seehundfell mit Wasser gefüllt hatte, allein das Felsriff verließ. Da er den Alten für Feuer und Nahrung nicht danken und der alten Frau – wie er es so gern getan hätte – kein Geschenk machen konnte, sprach er ein Zauberwort über die salzige, unzuverlässige Quelle. Daraufhin sprudelte das Wasser so hell, klar und frisch aus dem Sand hervor wie ein Bergquell auf Gont und versiegte nie. Aus diesem Grund ist die Insel heute in den Karten eingetragen und hat einen Namen; die Seeleute nennen sie die Quelleninsel. Aber die Hütte steht nicht mehr, und die zahllosen Winterstürme hinterließen keine Spuren von den beiden, die einst hier wohnten und einsam und verlassen starben.
Sie blieben in der Hütte und versteckten sich, als hätten sie Angst zuzuschauen, wie Ged sein Boot vom sandigen Südende der Insel aus ins Wasser schob und davonfuhr. Er ließ den Wind der Welt, der stetig aus dem Norden blies, seine Segel aus magischem Tuch füllen und segelte hurtig über die See davon.
Diese Seefahrt Geds war eine kuriose Angelegenheit. Wohl wußte er, daß er Jäger war, aber er wußte nicht, was er jagte und wo in der Erdsee sich die Beute aufhielt. Er war gezwungen, sich auf sein Glück, sein Gefühl, seine Ahnung zu verlassen, auf die gleichen Eigenschaften, auf die sich auch das Wesen verließ, das er verfolgte. Denn beide waren sie blind füreinander; Ged war unsicher, wenn er körperlose Schatten sah, der Schatten war verwirrt, wenn er im Tageslicht vor greifbaren Wesen und Dingen stand. Eine Gewißheit aber hatte Ged. Er war Jäger und nicht Gejagter, denn der Schatten, der ihn in die Felsen gelockt hatte, hätte ohne weiteres Besitz von ihm ergreifen können, als er bewußtlos und halbtot am Ufer lag und sich in der Dunkelheit im Sturm durch die Dünen schleppte, aber er hatte die Gelegenheit nicht wahrgenommen. Er hatte Ged ans Felsgestade gelockt und war dann geflohen; er hatte es nicht gewagt, sich Ged zu stellen. Aus diesem Verhalten entnahm Ged, daß
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