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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Ogion recht gehabt hatte: Der Schatten konnte ihm nichts von seiner Macht wegnehmen, solange er, Ged, sich gegen ihn wandte. Und das mußte er auch weiterhin tun, nach ihm, hinter ihm her mußte er jagen, obwohl die Fährte, die über die weite See führte, jetzt kalt war und obwohl er keine Anhaltspunkte hatte, die ihm den Weg weisen konnten. Nichts hatte er außer dem Wind der Welt, der ihn südwärts trieb, und einer dunklen Ahnung, daß er sich südlich oder östlich halten mußte.
    Vor Sonnenuntergang sah er linker Hand ganz schwach die Küste eines riesigen Landes liegen. Das mußte Karego-At sein. Er mußte sich mitten in den Seewegen dieser weißen Barbaren befinden. Scharf spähte er aus, ob sich ein Langschiff oder eine Galeere in der Nähe befand, und als er durch den roten Sonnenuntergang segelte, erinnerte er sich wieder an seine Jugend und den ereignisreichen Morgen in Zehnellern, an die federgeschmückten weißen Krieger, das Feuer und den Nebel. Und als die Erinnerung dieses Tages mächtig in ihm wurde, erkannte er mit Gewissensskrupeln, daß der Schatten ihn mit seinen eigenen Tricks hereingelegt hatte, als er auf dem Meer den Nebel um ihn wob. Der Schatten hatte ein Ereignis aus seiner Jugend wiederholt: er hatte die gefährlichen Felsen mit Nebel verdeckt, um ihn in den Tod zu locken.
    Er behielt weiterhin südöstlichen Kurs bei, und das Land versank am Horizont, als die Nacht sich über den Ostrand der Welt erhob. Die Wellentäler lagen im Schatten, während die Kämme im rötlichen Glanz des Westens schillerten. Ged sang laut die Winterhymne und alle Strophen, an die er sich erinnerte, von den Taten des jungen Königs, denn diese Lieder werden beim Fest der Wintersonnenwende gesungen. Seine Stimme war hell und klar, doch sie verlor sich in der Weite des schweigenden Meeres. Die Dunkelheit breitete sich rasch aus, und die Sterne begannen zu funkeln.
    Die ganze Nacht, die längste des Jahres, blieb er wach. Er sah die Sterne zu seiner Linken aufgehen, sich über ihn hinweg bewegen und im schwarzen Meer zu seiner Rechten wieder versinken, während die anhaltenden Winde des Winters ihn südlich über die unsichtbare See trieben. Nur ganz kurz nickte er ab und zu ein, wachte aber immer sofort wieder auf, denn das Boot, in dem er segelte, war eigentlich gar kein Boot, sondern ein Gebilde aus Zaubertricks und Zaubersprüchen mit einigen Brettern und Treibholz dazwischen, die sich schnell auflösen und als Strandgut auf dem Wasser davonschwimmen würden, wenn seine formgebenden Zauberworte nicht dauernd erneuert worden wären. Auch das Segel würde nicht lange Leinwand bleiben, wenn er einschliefe, sondern wie eine kleine Wolke vom Wind davongeblasen werden. Geds Zauberworte waren gut gewählt und mächtig, aber wenn die Materie gering ist, dann muß die Macht, die sie zusammenhält, dauernd erneuert werden; und daher konnte er in der Nacht nicht schlafen. Es wäre einfacher gewesen, sich in einen Falken oder in einen Delphin zu verwandeln, und er wäre schneller vom Fleck gekommen, aber Ogion hatte ihn davor gewarnt, und er schätzte Ogions Rat. So segelte er südlich unter den nach Westen ziehenden Sternen, und die lange Nacht verstrich langsam, bis endlich der erste Tag des neuen Jahres sein Licht übers Wasser ausbreitete. Bald nach Sonnenaufgang sah Ged Land vor sich liegen, aber er näherte sich ihm nur sehr langsam. Der Wind der Welt war fast abgestorben. Er rief einen leichten magischen Wind in sein Segel und ließ sich gegen das Land treiben. Beim Anblick des Landes hatte sich die Furcht wieder in sein Herz geschlichen, das wachsende Grauen, das ihn zum Fliehen, zum Weglaufen trieb. Aber er folgte diesem Grauen, wie der Jäger einer Spur folgt, der breiten, wuchtigen, klauenförmigen Spur eines Bären, der jeden Augenblick aus dem Dickicht brechen konnte. Er wußte, daß sein Feind nahe war; er spürte es.
    Das Land, das er immer deutlicher vor sich liegen sah, hatte seltsame Konturen. Was von der Ferne wie eine große, steile Felsküste ausgesehen hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als eine Anzahl steiler Felsen, einzelne Inseln vielleicht, die durch schmale Meeresstraßen getrennt waren. Ged hatte im Einsamen Turm bei Meister Namengeber viele Landkarten und Seekarten studiert, aber sie waren meist vom Inselreich und Innenmeer gewesen. Jetzt befand er sich aber im Ostbereich, und diese Inseln waren ihm unbekannt. Doch das kümmerte ihn wenig. Das Fürchterliche versteckte sich dort, es

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