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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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daß sie die Tür aus der Erschaffung Éas sah. Es war ein kleines Fenster aus knorrigem, trübem, schwerem Glas im unteren Teil der westlichen Wand eines alten Hauses oberhalb des Meers. Das Fenster war versperrt. Es war verriegelt worden. Sie wollte es öffnen, aber es gab ein Wort oder einen Schlüssel, etwas, das sie vergessen hatte, ein Wort, einen Schlüssel, einen Namen, etwas, ohne das sie es nicht öffnen konnte. Sie suchte es in Räumen aus Stein, die immer kleiner und dunkler wurden, bis sie merkte, daß Ged sie in den Armen hielt, sie zu wecken und zu trösten versuchte, und sagte: »Es ist schon gut, mein Geliebtes, es ist alles gut.«
    »Ich kann mich nicht befreien!« Sie klammerte sich an ihn.
    Er beruhigte sie, strich ihr über das Haar; sie legten sich zusammen wieder hin, und er flüsterte: »Schau.«
    Der alte Mond war aufgegangen. Der frische Schnee warf sein weißes Strahlen in den Raum, denn obwohl es kalt war, wollte Tenar die Fensterläden nicht schließen. Die Luft über ihnen leuchtete. Sie lagen im Schatten, aber die Decke schien nur ein Schleier zwischen ihnen und endlosen, silbernen, ruhigen Tiefen aus Licht zu sein.
    Es war ein Winter auf Gont mit schweren Schneefällen, ein langer Winter. Die Ernte war gut gewesen. Es gab Nahrung für Tiere und Menschen und nicht viel zu tun, außer zu essen und sich warmzuhalten.
    Therru hatte die gesamte Erschaffung Éas auswendig gelernt. Sie sprach am Tag der Sonnenrückkehr das Winterlied und die Heldentaten des Jungen Königs . Sie wußte, wie man die Kruste auf einer Pastete erzielte, wie man mit dem Rad spann und wie man Seife kochte. Sie kannte den Namen und die Verwendung jeder Pflanze, die sich aus dem Schnee erhob, und besaß ein umfangreiches mündliches Wissen über Kräuter, das sich Ged während seiner kurzen Lehrzeit bei Ogion und seiner langen Jahre an der Schule von Rok angeeignet hatte. Aber er hatte weder die Runen noch die Gedichtbände vom Kaminsims heruntergeholt und dem Kind auch kein einziges Wort der Sprache der Erschaffung beigebracht.
    Er sprach mit Tenar darüber. Sie erzählte ihm, wie sie Therru das eine Wort tolk gelehrt und dann damit aufgehört hatte, weil es ihr nicht richtig vorgekommen war, obwohl sie nicht wußte, warum.
    »Ich nahm an, es käme vielleicht daher, daß ich die Sprache nie wirklich gesprochen, sie nie in der Zauberkunst verwendet hatte. Ich dachte, daß sie es vielleicht von jemandem lernen soll, der es wirklich spricht.«
    »Den Mann gibt es nicht.«
    »Die Frau noch weniger.«
    »Ich meinte damit, daß nur die Drachen es als ihre Muttersprache sprechen.«
    »Lernen sie es?«
    Die Frage kam überraschend, und es dauerte eine Zeitlang, bis er antwortete; offensichtlich rief er sich alles ins Gedächtnis, was man ihm über die Drachen erzählt hatte und was er über sie wußte. »Das weiß ich nicht«, sagte er schließlich. »Was wissen wir über sie? Lehren sie so, wie wir es tun: die Mutter das Kind, der Ältere den Jüngeren? Oder sind sie wie die Tiere, die einiges lehren, aber mit dem größten Teil ihres Wissens geboren werden? Nicht einmal das wissen wir. Doch ich nehme an, daß der Drache und die Sprache des Drachen eins sind. Ein Wesen.«
    »Und sie sprechen keine andere Sprache.«
    Er nickte. »Sie lernen nicht. Sie sind.«
    Therru kam durch die Küche. Es gehörte zu ihren Aufgaben, dafür zu sorgen, daß die Kiste mit dem Anzündholz immer voll war, was sie eifrig tat; sie war in eine gekürzte Schaffelljacke und eine Mütze eingepackt und trabte zwischen Holzhütte und Küche hin und her. Sie ließ ihre Ladung in die Kiste neben der Kaminecke fallen und machte sich wieder auf den Weg.
    »Was singt sie immer?« fragte Ged.
    »Therru?«
    »Wenn sie allein ist.«
    »Sie singt nie. Sie kann es nicht.«
    »Wie sie auf ihre Art singt. ›Weiter westlich als im Westen …‹«
    »Ach, diese Geschichte! Hat Ogion dir nie von der Frau aus Kemay erzählt?«
    »Nein. Erzähl es mir.«
    Sie erzählte ihm die Geschichte, während sie spann, und das Surren und Sausen des Spinnrads begleiteten die Worte der Geschichte. Als sie fertig war, sagte sie: »Als mir Meister Windschlüssel erzählte, daß er ›eine Frau auf Gont‹ gesucht habe, dachte ich an sie. Aber sie ist inzwischen zweifellos gestorben. Wie könnte eine Fischersfrau, die ein Drache war, überhaupt Oberster Magier werden?«
    »Der Meister Formgeber hat nicht gesagt, daß eine Frau auf Gont Oberster Magier werden soll«, wandte Ged ein.

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