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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Lerche.
    Aber die Worte ›Oberster Magier‹ waren zu groß und zu großartig, um von weit entfernten Palästen und königlicher Pracht herbeigeholt und auf den dunkeläugigen grauhaarigen Mann auf dem Eichenhof angewendet zu werden, und sie tat es nie. Wenn sie es getan hätte, so hätte sie sich ihm gegenüber nie so zwanglos geben können, wie sie es tat. Schon die Vorstellung, daß er ein Zauberer gewesen war, war ihr unangenehm, weil das Wort sich vor den Menschen stellte, bis sie ihn wieder sah. Er saß in einem der alten Apfelbäume im Obstgarten und schnitt abgestorbene Aste zurück, und als sie den Besitz betrat, begrüßte er sie. Sein Name paßt zu ihm, dachte sie, als sie ihn dort oben sitzen sah; sie winkte ihm zu und ging lächelnd weiter.
    Tenar hatte die Frage, die sie ihm auf den Herdsteinen unter dem Schaffellmantel gestellt hatte, nicht vergessen. Einige Tage oder Monate später – in dem Steinhaus auf dem im Winterschlaf liegenden Gehöft verging ihnen die Zeit sehr süß und sanft – stellte sie sie wieder. »Du hast mir nie erzählt, wieso du hörtest, was die Männer auf der Straße sprachen.«
    »Ich glaube, ich habe es dir erzählt. Ich verließ die Straße und versteckte mich, als ich Männerstimmen hinter mir hörte.«
    »Warum?«
    »Ich war allein und wußte, daß sich in der Gegend Banden herumtreiben.«
    »Ja, natürlich … Und Hecht sprach in genau dem Augenblick von Therru, da sie an dir vorbeikamen?«
    »Ich glaube, er sagte ›Eichenhof‹.«
    »Das alles ist durchaus möglich. Es klingt nur so einfach.«
    Weil er wußte, daß sie nicht an seiner Darstellung zweifelte, legte er sich zurück und wartete.
    »So etwas stößt einem Zauberer zu«, meinte sie.
    »Und anderen.«
    »Vielleicht.«
    »Du versuchst doch nicht, meine Liebe, mich – wieder einzusetzen?«
    »Nein. Nein, keineswegs. Wäre das denn vernünftig? Wärst du hier, wenn du ein Zauberer wärst?«
    Sie lagen in dem großen Eichenbett unter Schaffellen und Federdecken, denn im Zimmer gab es keinen Kamin, und es war eine der bitterkalten Nächte, die auf Schneefälle folgen.
    »Ich möchte etwas anderes wissen. Gibt es etwas außer dem, was du als Macht bezeichnest – vielleicht etwas, das vor ihr kommt? Oder etwas, das man unter anderem als Macht verwenden kann? Zum Beispiel. Ogion sagte einmal über dich, daß du ein Magier warst, bevor du zum Zauberer ausgebildet oder erzogen wurdest. Der geborene Magier, meinte er. Ich stellte mir daraufhin vor, daß man, um Macht zu besitzen, zuerst Platz für die Macht haben muß. Eine Leere, die man füllt. Je größer die Leere, desto mehr Macht kann hineingefüllt werden. Doch wenn man die Macht nie erhalten hat oder wenn sie einem genommen wurde, oder wenn man sie hergegeben hat – wäre sie immer noch vorhanden.«
    »Die Leere«, sagte er.
    »Leere ist ein Wort. Vielleicht nicht das richtige.«
    »Wirkungsvermögen?« fragte er kopfschüttelnd. »Was fähig ist zu sein – zu werden.«
    »Ich glaube, daß du deswegen gerade auf der Straße gingst – weil es das ist, was dir widerfährt. Du ließest es nicht geschehen. Du hast es nicht verursacht. Es geschah nicht aufgrund deiner ›Macht‹. Es geschah dir. Wegen deiner – Leere.«
    Nach einer Weile bemerkte er: »Das hat damit zu tun, was man mir als Junge auf Rok beibrachte: daß wahre Zauberkunst darin liegt, nur das zu tun, was man tun muß. Aber diese Sache führte weiter. Nicht tun, sondern dazu gebracht werden …«
    »Ich glaube nicht, daß es sich ganz so verhält. Es ist eher das, woraus sich echtes Tun entwickelt. Du bist gekommen und hast mir das Leben gerettet – du hast Hecht mit einer Mistgabel durchbohrt. Das war richtiges Tun, du tatest, was du tun mußtest …«
    Er überlegte wieder, dann fragte er: »Ist dies eine Weisheit, die man dich lehrte, als du Priesterin der Gräber warst?«
    »Nein.« Sie streckte sich ein bißchen und blickte in die Dunkelheit. »Man lehrte Arha, daß sie Opfer bringen müsse, um mächtig zu sein. Sich selbst und andere opfern. Ein Handel: Gib und bekomm dadurch. Ich kann nicht behaupten, daß das nicht stimmt. Aber meine Seele kann nicht an einem so engen Ort leben – dies für das, Zahn für Zahn, Tod für Leben … Es gibt eine Freiheit, die darüber hinausgeht. Über Bezahlung, Vergeltung, Erlösung hinaus – jenseits aller Geschäfte und allen Abwägens gibt es Freiheit.«
    »Die Tür zwischen ihnen«, flüsterte er.
    In dieser Nacht träumte Tenar. Sie träumte,

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