Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
unternommen.«
»Wohin?«
»Dorthin, wo die Sonne nicht aufgeht und die Sterne nicht untergehen. Und von diesem Ort zurück.«
»Seid ihr geflogen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nur laufen.«
Das Kind überlegte, sagte dann, als sei es befriedigt, gute Nacht und ging in sein Zimmer. Tenar folgte ihm, aber Therru wollte nicht in den Schlaf gesungen werden. »Ich kann die Erschaffung in der Dunkelheit aufsagen. Beide Strophen.«
Tenar kehrte in die Küche zurück und setzte sich wieder zu Ged an den Herd.
»Wie sie sich verändert«, sagte sie. »Ich kann nicht mit ihr Schritt halten. Ich bin zu alt, um ein Kind aufzuziehen. Und sie … sie gehorcht mir, aber nur deshalb, weil sie es will.«
»Das ist die einzige Rechtfertigung für Gehorsam«, bemerkte Ged.
»Aber was kann ich tun, wenn sie es sich in den Kopf setzt, mir nicht mehr zu gehorchen? In ihr steckt eine Wildheit. Manchmal ist sie meine Therru, manchmal ist sie etwas anderes, Unerreichbares. Ich habe Eppich gefragt, ob sie sie ausbilden würde. Bucher hatte es vorgeschlagen. Eppich sagte nein. ›Warum nicht?‹ wollte ich wissen. ›Ich habe Angst vor ihr!‹ … Aber du hast keine Angst vor ihr. Und sie nicht vor dir. Du und Lebannen, ihr seid die einzigen Männer, von denen sie sich berühren ließ. Ich ließ diesen … diesen Flinko … Ich kann nicht darüber sprechen. Bin ich müde! Ich verstehe überhaupt nichts …«
Ged legte einen Astknorren auf das Feuer, damit es klein und langsam brannte, und sie sahen beide dem Springen und Flackern der Flammen zu.
»Ich möchte, daß du hierbleibst, Ged«, sagte sie. »Wenn du möchtest.«
Er antwortete nicht sofort. »Vielleicht ziehst du weiter nach Havnor …«, sagte sie.
»Nein, nein. Es gibt kein Ziel für mich. Ich suche Arbeit.«
»Hier ist eine Menge zu tun. Reinbach gibt es nicht zu, aber seine Arthritis hat ihm alles bis auf die Gartenarbeit genommen. Seit ich zurückgekommen bin, brauche ich Hilfe. Ich hätte dem alten Dickschädel erzählen können, was ich davon halte, daß er dich auf den Berg hinaufschickte, aber es hat keinen Sinn. Er würde nicht zuhören.«
»Für mich war es gut«, bemerkte Ged. »Es verschaffte mir die Zeit, die ich brauchte.«
»Du hast Schafe gehütet?«
»Ziegen. Ganz oben, auf den höchsten Weiden. Ein Junge, den sie hatten, wurde krank, und Serry stellte mich ein und schickte mich am ersten Tag hinauf. Sie lassen sie bis spät im Herbst oben, damit die Unterwolle dicht wird. Den letzten Monat hatte ich den Berg beinahe für mich allein. Serry schickte mir den Mantel und Vorräte herauf und verlangte, ich solle die Herde so hoch wie möglich und so lange wie möglich dort oben halten. Das tat ich. Dort oben war es schön.«
»Einsam.«
Er nickte halb lächelnd.
»Du bist immer allein gewesen.«
»Ja.«
Sie schwieg. Er sah sie an.
»Ich möchte hier arbeiten.«
»Das ist also erledigt.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Jedenfalls für den Winter.«
In dieser Nacht wurde die Kälte schlimmer. Ihre Welt war bis auf das Flüstern des Feuers vollkommen still. Die Stille stand wie eine Anwesenheit zwischen ihnen. Sie hob den Kopf und sah ihn an.
»In welchem Bett soll ich schlafen, Ged? In dem des Kindes oder in deinem?«
Er holte Luft und sprach leise. »In meinem, wenn du willst.«
»Ich will.«
Die Stille schloß ihn ein. Sie sah, welche Mühe es ihn kostete, sich davon zu befreien. »Wenn du mit mir Geduld haben willst.«
»Ich habe seit fünfundzwanzig Jahren Geduld mit dir«, antwortete sie, sah ihn an und lachte auf. »Komm, komm schon, mein Liebster … Besser spät als nie! Ich bin nur eine alte Frau … Nichts ist vergeudet, nichts ist jemals vergeudet. Das hast du mich gelehrt.« Sie stand auf, und er stand auf; sie streckte die Hände aus, und er ergriff sie. Sie umarmten sich, und ihre Umarmung wurde innig. Sie hielten einander so leidenschaftlich, so zärtlich fest, daß sie aufhörten, etwas anderes als einander zu kennen. Es spielte keine Rolle, in welchem Bett sie schlafen wollten. In dieser Nacht lagen sie auf den Herdsteinen, und dort lehrte Tenar Ged das Mysterium, das ihn der Weiseste nicht hätte lehren können.
Er legte noch einmal im Herd nach und nahm das gute Tuch von der Bank. Diesmal wendete Tenar nichts dagegen ein. Ihr Mantel und sein Schaffellmantel bildeten ihre Decken.
Sie erwachten im Morgengrauen. Auf den halb entlaubten dunklen Ästen der Eichen vor dem Fenster lag schwaches silbriges
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