Der Erl�ser
gestrichenen, einfach eingerichteten Raum versammelt hatten. Der Tempel hatte weder eine Altartafel noch eine Altarkniebank, einzig eine Büßerbank zwischen den Stuhlreihen und dem Podium, auf der man knien und seine Sünden bekennen konnte. Der Kommandeur sah auf die Versammlung herab und machte eine Kunstpause, ehe er fortfuhr:
»Denn auch wenn Matthäus schreibt, dass der Erlöser in all seiner Herrlichkeit und in Begleitung all seiner Engel kommen wird, steht doch auch geschrieben: ›Ich war ein Fremder unter euch, aber ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich war nackt, aber ihr wolltet mir nichts zum Anziehen geben. Ich war krank und im Gefängnis, aber ihr habt mich nicht besucht.‹«
David Eckhoff holte Luft, blätterte um und hob seinen Blick. Dann fuhr er fort, ohne auf seinen Text zu sehen:
»›Dann werden auch sie ihn fragen: Herr, wann haben wir dich denn hungrig oder durstig, ohne Unterkunft, nackt, krank oder im Gefängnis gesehen und dir nicht geholfen? Darauf wird ihnen der König antworten: Lasst es euch gesagt sein: Die Hilfe, die ihr meinen geringsten Brüdern verweigert habt, die habt ihr mir verweigert.Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.‹«
Der Kommandeur schlug auf die Kanzel.
»Was Matthäus uns hier sagt, ist ein Kriegsruf, eine Kriegserklärung an den Egoismus und die Unbarmherzigkeit!«, dröhnte er. »Und wir Salutisten glauben, dass am Tag des Jüngsten Gerichts ein strenges Urteil gefällt werden wird, bei dem die Gerechten das ewige Leben erwartet, die Gottlosen aber die ewige Strafe.«
Nach der Predigt des Kommandeurs war Zeit für persönliche Bekenntnisse. Ein älterer Mann erzählte von einem Kampf auf dem Stortorvet, den sie mutig mit dem Wort Gottes im Namen Jesu gewonnen hätten. Dann trat ein jüngerer Mann vor und verkündete, dass sie die heutige Versammlung mit Lied 617 des Gesangbuches beenden wollten. Er stellte sich vor das uniformierte Orchester mit den acht Bläsern. Rikard Nilsen gab an der Pauke den Takt an. Nach einem Vorspiel drehte sich der Dirigent um, und die Versammlung stimmte ein. Der Gesang erfüllte den Raum:
»Lasset die Fahne des Heils wehen, im heiligen Krieg voran!«
Als das Lied zu Ende war, trat David Eckhoff noch einmal auf die Kanzel:
»Liebe Freunde. Lasst mich diese Abendversammlung mit einer freudigen Mitteilung beenden. Das Büro des Ministerpräsidenten hat heute bestätigt, dass der Ministerpräsident beim diesjährigen Weihnachtskonzert im Konzerthaus unser Gast sein wird.«
Die Nachricht wurde mit spontanem Beifall quittiert. Die Versammlung erhob sich und strebte langsam dem Ausgang zu, während der Raum von den aufgeregten Stimmen förmlich summte. Nur Martine Eckhoff schien es eilig zu haben. Harry saß auf der letzten Bank und sah sie über den Mittelgang auf ihn zukommen. Sie trug ein wollenes Kleid, schwarze Strümpfe und Dr.-Martens-Stiefel wie er selbst. Auf dem Kopf hatte sie eine weiße Strickmütze. Sie sah ihn direkt an, anscheinend ohne ihn zu erkennen. Dann leuchtete ihr Gesicht auf. Harry erhob sich.
»Hallo«, grüßte sie und legte lächelnd den Kopf schräg: »Arbeit oder Trost für die Seele?«
»Nun, Ihr Vater versteht sich ja wirklich aufs Predigen.« »Als Pfingstler wäre er Weltklasse.«
Harry glaubte, in der Menge hinter ihr Rikard gesehen zu haben. »Hören Sie, ich habe noch ein paar Fragen. Wenn Sie Lust haben, draußen in der Kälte ein bisschen spazieren zu gehen, könnte ich Sie nach Hause bringen.«
Martine wirkte skeptisch.
»Das heißt, wenn Sie nach Hause wollen«, beeilte sich Harry hinzuzufügen.
Martine sah sich um, ehe sie antwortete. »Ich bringe lieber Sie nach Hause, Sie wohnen ja auf dem Weg.«
Die Luft draußen war rau, dick und roch nach Fett und salzigen Abgasen.
»Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte Harry. »Sie kennen ja beide, Robert und Jon. Ist es möglich, dass Robert seinen Bruder umbringen wollte?«
»Was sagen Sie da?«
»Denken Sie nach, bevor Sie antworten.«
Sie schoben sich seitlich an den Menschen vorbei, die aus dem Revuetheater Edderkoppen strömten, und kamen in die menschenleeren Straßen. Die Zeit der Weihnachtsfeiern war langsam vorbei, aber dennoch wimmelte es auf der Pilestredet von Taxen, aus denen sie herausgeputzte Menschen mit Aquavitblicken anstarrten.
»Robert war schon recht wild«, sagte Martine. »Aber töten?« Sie schüttelte entschieden den Kopf.
»Kann er andere beauftragt haben,
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