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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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ich, gesehen, als ich nachts im Mädchenschlafsaal aufgewacht bin. Er hat durchs Fenster geschaut. Ich habe sein Gesicht gesehen. Nicht lang, dann war es weg. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war. Als ich es den anderen erzählt habe, meinten die nur, ich sähe Gespenster. Sie waren ja alle überzeugt davon, dass etwas mit meinen Augen nicht in Ordnung sei.«
    »Warum das denn?«
    »Ist Ihnen das denn noch nicht aufgefallen?«
    »Was?«
    »Setzen Sie sich hierher«, sagte Martine und klopfte neben sich auf das Sofa. »Ich werde es Ihnen zeigen.«
    Harry ging um den Tisch herum.
    »Sehen Sie meine Pupillen?«, fragte sie.
    Harry beugte sich vor und spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. Und da sah er es. Die Pupillen in der braunen Iris sahen aus, als wären sie nach unten hin zu einer Art Schlüsselloch auseinandergeflossen.
    »Das ist angeboren«, sagte sie. »Man nennt das Coloboma inidis . Aber man kann damit ganz normal sehen.«
    »Interessant.« Ihre Gesichter waren sich so nah, dass er ihre Hautund ihre Haare riechen konnte. Er hielt die Luft an und verspürte einen angenehmen Schauder, als würde er sich in eine heiße Badewanne gleiten lassen. Da läutete es auf einmal hart und kurz.
    Harry begriff nicht sofort, dass es die Klingel an der Wohnungstür war und nicht an der Haustür. Jemand stand im Treppenhaus vor seiner Tür.
    »Das ist bestimmt Ali«, sagte Harry und stand vom Sofa auf. »Mein Nachbar.«
    In den sechs Sekunden, die Harry brauchte, um vom Sofa aufzustehen und in den Flur zu gehen, wurde ihm bewusst, dass es für Ali eigentlich reichlich spät war. Und dass Ali in der Regel anklopfte. Die Tür unten stand sicher wieder offen, wenn jemand nach ihm und Martine das Haus verlassen oder betreten hatte.
    Erst im Laufe der siebten Sekunde wurde ihm klar, dass er besser nicht geöffnet hätte. Er starrte die Person an, die vor ihm stand, und es begann ihm zu dämmern, was jetzt geschehen würde.
    »Jetzt freust du dich aber doch, oder?«, fragte Astrid leicht lallend.
    Harry antwortete nicht.
    »Ich komme von einer Weihnachtsfeier. Willst du mich nicht reinbitten, Harry, mein Junge?« Ihre rot bemalten Lippen drückten sich ihr an die Zähne, als sie lächelte, und ihre Stilettos klackerten auf dem Parkett, als sie einen Ausfallschritt machte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    »Es passt gerade nicht so gut«, sagte Harry.
    Sie kniff die Augen zusammen und musterte sein Gesicht. Dann warf sie einen Blick über seine Schulter. »Hast du Damenbesuch? Bist du deshalb heute nicht zu unserer Sitzung gekommen?«
    »Lass uns ein anderes Mal reden, Astrid. Du bist betrunken.«
    »Wie haben heute bei der Sitzung über den Dritten Schritt diskutiert. Wir entschließen uns, unser Leben in Gottes Hand zu legen . Aber ich sehe hier keinen Gott, Harry. « Sie schlug halbherzig mit der Tasche nach ihm.
    »Es gibt keinen Dritten Schritt, Astrid. Jeder muss seine eigene Haut retten.«
    Sie hielt inne und starrte ihn an, während ihr mit einem Mal die Tränen in die Augen stiegen. »Lass mich rein, Harry!«, flüsterte sie.
    »Das hilft dir auch nicht weiter, Astrid.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich ruf dir ein Taxi, damit du nach Hause kommst.« Seine Hand wurde mit überraschender Kraft weggeschlagen. Ihre Stimme gellte: »Nach Hause? Wenn ich irgendwo nicht hingehe, dann nach Hause, du blöder, impotenter Schürzenjäger!«
    Sie wirbelte herum und schwankte die Treppe hinunter.
    »Astrid «
    »Vergiss es. Fick lieber deine andere Hure da! «
    Harry sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Er hörte ihren fluchenden Kampf mit der Haustür, die quietschenden Scharniere und dann Stille.
    Als er sich umdrehte, sah er Martine hinter sich im Flur stehen und langsam ihren Mantel zuknöpfen.
    »Ich «, begann er.
    »Es ist spät.« Sie lächelte schnell. »Ich war wohl auch ein bisschen müde.«
     
    Es war drei Uhr in der Nacht, und Harry saß noch immer im Ohrensessel. Tom Waits sang leise von Alice, während die Schlagbesen unablässig über die Drums wischten.
    »It’s dreamy weather we’re on. You wave your crooked wand along an icy pond . «
    Die Gedanken kamen, ohne dass er es wollte. Dass jetzt alle Kneipen zu waren. Dass er seinen Flachmann nicht mehr aufgefüllt hatte, nachdem er dem Hund im Containerhafen den gesamten Inhalt in den Rachen gekippt hatte. Aber dass er Øystein anrufen konnte. Dass Øystein, der beinahe jede Nacht Taxi fuhr, immer eine halbe Flasche Gin unter dem

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