Der Erl�ser
das zu tun?«
Martine zuckte mit den Schultern. »Ich hatte nicht so viel mit Robert und Jon zu tun. «
»Warum nicht? Sie sind doch sozusagen miteinander aufgewachsen.«
»Ja. Aber eigentlich hatte ich mit niemand wirklich zu tun. Ich war am liebsten allein. Wie Sie. «
»Ich?«, entfuhr es Harry überrascht.
»Ein einsamer Wolf erkennt den anderen, wissen Sie. « Harry blickte zur Seite und erntete einen neckenden Blick:
»Sie waren ganz sicher so ein Junge, der immer seine eigenen Wege ging. Faszinierend und unnahbar.«
Harry lächelte und schüttelte den Kopf. Sie gingen an den Ölfässernvor der verfallenen, aber farbenfrohen Fassade des Blitz vorbei. Er zeigte auf das Haus:
»Erinnern Sie sich an die Besetzung 1982 und an die Punkkonzerte? Kjøtt, The Aller Værste , und all die anderen Bands?«
Martine lachte. »Nein, da bin ich gerade eingeschult worden. Und das Blitz war nicht gerade der passende Ort für uns Leute von der Heilsarmee.«
Harry verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. »Nein. Also, es kam aber durchaus vor, dass ich hier war. Auf jeden Fall zu Beginn. Da dachte ich noch, dass das vielleicht der richtige Ort für einen Außenseiter wie mich sein könnte. Aber da hab ich auch nicht wirklich hingepasst. Weil es letzten Endes auch im Blitz bloß um Uniformierung und Gruppendenken ging. Demagogen hatten da ebenso große Möglichkeiten wie «
Harry hielt inne, aber Martine vollendete seinen Satz: »... wie mein Vater heute Abend im Tempel?«
Harry schob seine Hände tiefer in die Taschen. »Ich wollte damit nur sagen, dass man sich schnell einsam fühlt, wenn man sein eigenes Hirn benutzen will, um Antworten zu finden.«
»Und welche Antwort hat Ihnen Ihr einsames Hirn jetzt gegeben?« Martine hakte sich bei ihm ein.
»Dass es den Anschein hat, als hätten sowohl Jon als auch Robert ihre Frauengeschichten gehabt. Was ist an Thea so besonders, dass sie sie beide unbedingt haben mussten?«
»Robert war an Thea interessiert? Den Eindruck hatte ich eigentlich gar nicht.«
»Jon behauptet das. «
»Ja, wie gesagt, ich hatte ja nicht so viel mit ihnen zu tun. Aber ich erinnere mich, dass Thea damals auf dem Østgård ziemlich umschwärmt war. Die Konkurrenz beginnt früh, wissen Sie.«
»Die Konkurrenz?«
»Ja, die Jungs, die auf die Offiziersschule wollen, müssen schließlich in den Reihen der Heilsarmee ein Mädchen finden.«
»Das müssen sie?«, fragte Harry überrascht.
»Wussten Sie das nicht? Heiraten sie jemand von außerhalb, verlieren sie erst einmal ihre Anstellung in der Armee. Die ganze Befehlsstruktur basiert darauf, dass verheiratete Offiziere zusammenwohnen und arbeiten. Sie haben eine gemeinsame Bestimmung. «
»Das hört sich aber streng an. «
»Wir sind eine militärische Organisation.« Martine sagte das ohne eine Spur von Ironie.
»Und die Jungs wussten, dass Thea Offizierin werden würde? Obwohl sie ein Mädchen war?«
Martine schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie wissen wohl nicht so viel über die Heilsarmee. Zwei Drittel aller Offiziere sind Frauen.«
»Aber der Kommandeur ist ein Mann? Und der Verwaltungschef?«
Martine nickte. »Unser Gründer William Booth hat immer gesagt, seine besten Männer seien Frauen. Trotzdem ist es bei uns auch nicht anders als im Rest der Gesellschaft. Dumme, selbstsichere Männer bestimmen über kluge Frauen mit Höhenangst.«
»Dann haben sich die Jungs jeden Sommer darum geprügelt, wer über Thea bestimmen durfte?«
»Eine Weile. Aber irgendwann ist Thea dann plötzlich nicht mehr auf den Østgård gekommen. Und damit war das Problem gelöst.« »Warum ist sie nicht mehr gekommen?«
Martine zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte sie nicht mehr? Oder ihre Eltern. Bei so vielen Jugendlichen im gleichen Alter Sie wissen schon.«
Harry nickte. Aber er wusste nicht. Er war damals ja nicht einmal auf Konfirmandenfreizeit gewesen. Sie gingen über die Stensberggate.
»Hier bin ich geboren«, sagte Martine und zeigte auf die Mauer, die sich vor dem Abriss rund um das Reichshospital gezogen hatte. Nicht mehr lang, und das Wohnungsbauprojekt Pilestredet Park war abgeschlossen.
»Das Gebäude mit der Säuglingsstation steht noch. Da sind jetzt Wohnungen drin«, sagte Harry.
» Wohnt da wirklich jemand? Wenn man daran denkt, was da alles geschehen ist. Abtreibungen und «
Harry nickte. »Manchmal hört man die Kinder noch schreien, wenn man hier nachts herumläuft.«
Martine sah Harry mit großen Augen an.
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