Der Erl�ser
wohnen.«
Sie sah Jon tadelnd an. »Hier kümmert man sich wenigstens um seinen Nächsten.«
»Ja doch«, sagte er seufzend. »Wir kümmern uns umeinander. Dann gute Nacht.«
Sie drückte sich an ihn und schob ihre Finger unter sein Hemd, und er spürte zu seiner Verwunderung, wie kalt und klamm ihre Hand war, als hätte sie irgendetwas krampfhaft umklammert. Sie drückte sich an ihn und atmete plötzlich schwerer.
»Thea«, sagte er. »Wir dürfen nicht «
Sie erstarrte, dann seufzte sie und zog ihre Hand zurück.
Jon war überrascht. Bis jetzt hatte Thea keine Annäherungsversuche unternommen, vielmehr hatte es immer den Anschein gehabt, als fürchtete sie sich ein wenig vor dem körperlichen Kontakt. Und diese Schüchternheit wusste er zu schätzen. Außerdem hatte sie beruhigt gewirkt, als er nach ihrer ersten Verabredung betont hatte, in den Statuten der Heilsarmee stehe, dass man bis zur Ehedie Enthaltsamkeit üben solle, um ein christliches Vorbild zu geben. Und obwohl einige meinten, es gebe einen Unterschied zwischen den Worten Vorbild und Vorschrift, wie zum Beispiel beim Verbot von Zigaretten und Alkohol, sah er keinen Grund dafür, ein Versprechen an Gott wegen solcher Spitzfindigkeiten zu brechen.
Er umarmte sie, erhob sich und ging auf die Toilette. Schloss die Tür hinter sich ab und drehte den Wasserhahn auf. Ließ das Wasser über seine Hände laufen, während er auf die glatte Fläche aus geschmolzenem Sand starrte, die das Spiegelbild einer Person zeigte, die allen äußeren Anzeichen nach glücklich sein sollte. Er musste Ragnhild anrufen. Es hinter sich bringen. Jon holte tief Luft. Er war glücklich. Manche Tage waren einfach ein bisschen härter als andere.
Er trocknete sich das Gesicht ab und ging wieder zu ihr.
*
Die Notaufnahme der Ambulanz in der Storgata 40 war in weißes, hartes Licht getaucht. Im Warteraum saß die für diese Uhrzeit übliche menschliche Menagerie. Ein Junkie erhob sich zitternd und ging etwa zwanzig Minuten nachdem Harry gekommen war. Sie schafften es in der Regel nicht, länger als zehn Minuten still zu sitzen. Harry verstand das nur zu gut. Er hatte noch immer den Alkoholgeschmack im Mund, der seinen alten Feind tief in seinem Inneren zu neuem Leben erweckt hatte, wo er jetzt an seinen Fesseln zerrte und riss. Das Bein schmerzte wahnsinnig. Und dabei war der Weg zum Containerhafen – wie neunzig Prozent aller Polizeiermittlungen – ergebnislos gewesen. Er versprach sich selbst, die nächste Verabredung mit Bette Davis einzuhalten.
»Harry Hole?«
Harry blickte zu dem Mann in dem weißen Kittel auf, der vor ihm stehen geblieben war.
»Ja? «
»Können Sie mit mir kommen?«
»Danke, aber ich glaube, ich komme erst nach der Frau dort«, sagte Harry und nickte in Richtung eines Mädchens. Sie saß ihm gegenüber und hatte den Kopf auf die Hände gestützt.
Der Mann beugte sich vor. »Sie kommt heute Abend schon zum zweiten Mal. Die kommt schon zurecht.«
Hinkend folgte Harry dem weißen Arztkittel über einen Flur in ein enges Büro mit einem Schreibtisch und einem einfachen Bücherregal. Er sah keine persönlichen Gegenstände.
»Ich dachte, bei der Polizei gäbe es eigene Mediziner«, sagte der Arztkittel.
»Fehlanzeige. Normalerweise kriegen wir auch keine Sonderkonditionen in der Warteschlange. Woher wissen Sie, dass ich Polizist bin? «
»Entschuldigung. Ich bin Mathias. Sie sind mir aufgefallen, als ich durchs Wartezimmer gegangen bin. «
Der Arzt streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. Harry fielen seine ebenmäßigen Zähne auf. So ebenmäßig, dass man ihn fast verdächtigen musste, ein Gebiss zu tragen, wäre nicht der Rest seines Gesichtes ebenso symmetrisch, klar und formvollendet gewesen. Kleine Lachfältchen zogen sich um die blauen Augen, und sein Händedruck war fest und trocken. Wie aus einem Arztroman, dachte Harry. Der Doktor mit den warmen Händen.
»Mathias Lund-Helgesen«, ergänzte der Mann und sah Harry fragend an.
»Sie sind also der Meinung, dass ich wissen müsste, wer Sie sind?«, fragte Harry.
»Wir haben uns schon einmal getroffen. Letzten Sommer. Bei einer Gartenparty zu Hause bei Rakel. «
Harry erstarrte, als er ihren Namen aus dem Mund eines anderen Mannes hörte.
»Ach ja?«
»Das war ich«, sagte Mathias Lund-Helgesen schnell und leise. »Hm.« Harry nickte langsam. »Ich blute noch immer.«
»Das kann ich gut verstehen.« Lund-Helgesen legte sein Gesicht in ernste, mitfühlende Falten.
Harry zog
Weitere Kostenlose Bücher