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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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Brynsallee, hatte ihm die Bilder gezeigt. Per Holmen hatte mit einem Loch in der rechten Schläfe mit dem Rücken an der Wand gelehnt, rechts neben sich die Pistole. Wenig Blut. Das war das Gute an Kopfschüssen. Das einzig Gute. Die Pistole brauchte nur ein sehr bescheidenes Kaliber, so dass die Einschusswunde minimal war und es auch keine Austrittswunde gab. Die Rechtsmedizin würde die Patrone demnach im Kopf finden, wo sie vermutlich wie eine Flipperkugel hin und her geschnellt war und Brei aus dem Teil von Per Holmens Kopf gemacht hatte, den er zuvor zum Denken genutzt hatte. Der ihm geholfen hatte, diesen Entschluss zu fassen, und seinem Zeigefinger zu guter Letzt den Befehl gegeben hatte, den Abzug zu drücken.
    »Unbegreiflich«, pflegten seine Kollegen zu sagen, wenn sie junge Menschen fanden, die sich für den Freitod entschieden hatten. Harry nahm an, dass sie das sagten, um sich selbst zu schützen, um die Idee als solche als absurd hinzustellen. Ansonsten verstand er aber nicht, was daran so unbegreiflich sein sollte.
    Trotzdem war es gerade dieses Wort gewesen, das er noch am Nachmittag benutzt hatte, als er im Treppenhaus stand und in den dunklen Flur blickte, auf Per Holmens knienden Vater, auf seinen Rücken, der von Schluchzern geschüttelt wurde. Und da Harry angesichts des Todes keine Worte des Trostes hatte, keinen Gott, keinen Erlöser, kein Leben danach und auch keinen tieferen Sinn, murmelte er nur dieses eine hilflose Wort: »Unbegreiflich «
    Harry machte die Lampe aus, steckte sie in die Tasche und war umschlossen von Dunkelheit.
    Er dachte an seinen eigenen Vater, Olav Hole, den pensionierten Lehrer und Witwer, der in einem Haus in Oppsal wohnte. Daran, wie seine Augen aufleuchteten, wenn er einmal im Monat Besuch von Harry oder dessen Schwester Søs bekam, und wie dieses Leuchten langsam wieder verlosch, während sie Kaffee tranken und über belangloses Zeug redeten. Denn die Einzige, die ihm etwas bedeutete, thronte in einem Bilderrahmen auf jenem Klavier, auf dem sie immer gespielt hatte. Olav Hole tat fast nichts mehr. Erlas nur noch seine Bücher. Über Länder und Reiche, die er niemals mehr zu Gesicht bekommen würde und die er wohl auch nicht mehr sehen wollte, nicht jetzt, da sie ihn nicht mehr begleiten konnte. »Den größten Verlust«, nannte er es, wenn sie, was selten vorkam, darüber sprachen. Was würde Olav Hole wohl sagen, wenn sie eines Tages kamen und ihm vom Tod seines Sohnes berichteten?, fragte sich Harry.
    Er trat aus dem Container und ging zum Zaun. Packte mit den Händen zu. Dann kam einer dieser merkwürdigen Augenblicke von plötzlicher, vollkommener Stille, in denen der Wind den Atem anhielt, wie um zu lauschen oder nachzudenken, so dass nur das vertraute Rumoren der Stadt im winterlichen Dunkel zu hören war – und das Flattern von Papier, das über den Asphalt wehte. Aber der Wind hatte sich gelegt. Das war kein Papier, das waren Schritte. Rasche, leichte Schritte. Nicht von Menschenfüßen.
    Pfoten.
    Harrys Herzschlag beschleunigte rasant, und er zog blitzschnell die Knie unter sich hoch. Richtete sich auf. Erst später sollte er sich daran erinnern, was ihm derart die Furcht in die Glieder getrieben hatte. Es war die Stille gewesen, und die Tatsache, dass er in dieser Stille nichts gehört hatte, kein Knurren, kein Zeichen von Aggressivität. Als wollte ihn das, was sich dort hinter ihm im Dunkel befand, nicht erschrecken. Ganz im Gegenteil. Als machte es Jagd auf ihn. Und hätte Harry mehr über Hunde gewusst, wäre er sich vielleicht darüber im Klaren gewesen, dass es nur eine Art gab, die niemals knurrte, weder wenn sie Angst hatte noch wenn sie angriff: die Rüden der Rasse Schwarzer Metzner. Harry warf die Arme nach oben und zog erneut die Knie an, als er eine Lücke im Rhythmus wahrnahm, gefolgt von Stille. Er wusste, dass der Hund gesprungen war. Harry trat blindlings nach hinten.
    Die Behauptung, man empfinde keinen Schmerz, wenn die Angst das Blut mit Adrenalin vollgepumpt hat, ist bestenfalls unpräzise. Harry brüllte, als die Zähne des großen, schlanken Hundes in sein Bein schlugen und sich immer tiefer gruben, bis sie schließlich auf die empfindliche Knochenhaut trafen. Das Gitter sang, die Schwerkraft zerrte an ihnen beiden, doch mit dem Mut der Verzweiflung gelang es Harry, sich festzuhalten. Normalerweise hätte das seineRettung sein sollen. Denn jeder andere Hund mit dem Gewicht eines ausgewachsenen Metzners hätte jetzt loslassen

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