Der Erl�ser
bekommen hatte, sowie das Foto des Objektes und die weiteren Informationen über das Wie und Wo. Es sollte morgen Abend um sieben Uhr auf einem öffentlichen Platz geschehen. Sie hatte daraufhingewiesen, dass dieser Auftrag risikoreicher war als der letzte. Trotzdem hatte er keine Angst. Manchmal dachte er, dass er die Fähigkeit, Angst zu verspüren, verloren hatte, dass sie ihm an diesem Abend amputiert worden war wie seinem Vater der Arm. Bobo hatte gesagt, dass man nicht lange überlebte, wenn man keine Angst hatte.
Draußen war Zagreb gerade erst erwacht. Ein schneefreier, nebelgrauer, müder Morgen. Er stellte sich vor den Eingang des Hotels und dachte, dass sie in ein paar Tagen an die Adria fahren würden, in einen kleinen Ort mit einem kleinen Hotel, Nebensaisonpreisen und ein bisschen Sonne. Und dass sie über das neue Haus reden konnten.
Der Bus zum Flughafen sollte jetzt hier sein. Er starrte in den Nebel. Starrte, wie er es in jenem Herbst getan hatte, als er zusammengekauert an Bobos Seite hockte und vergeblich etwas in dem weißen Rauch zu erkennen versuchte. Sein Auftrag lautete, Nachrichten zu überbringen, die sie nicht über Funk zu verbreiten wagten, da die Serben den gesamten Frequenzbereich abhörten. Und da er so klein war, konnte er in rasendem Tempo durch die Schützengräben rennen, ohne sich bücken zu müssen. Er erklärte Bobo, dass er Panzer sprengen wolle.
Bobo schüttelte den Kopf. »Du bist ein Bote. Diese Nachrichten sind wichtig, mein Sohn. Ich habe Männer, die sich um die Panzer kümmern.«
»Aber die haben Angst. Ich habe keine Angst.«
Bobo zog die Augenbrauen hoch. »Du bist noch ein Kind.«
»Ich werde auch nicht älter, wenn mich die Kugeln hier finden statt dort draußen. Und du hast selbst gesagt, dass sie die Stadt einnehmen werden, wenn es uns nicht gelingt, ihre Panzer aufzuhalten.«
Bobo sah ihn lange an.
»Lass mich nachdenken«, sagte er schließlich und blieb eine Weile gemeinsam mit ihm still da sitzen und starrte ins Weiß, ohne ausmachen zu können, was Herbstnebel und was Rauch aus den brennenden Ruinen war. Zu guter Letzt räusperte sich Bobo: »Heute Nacht habe ich Franjo und Mirko zu der Öffnung im Wall geschickt, durch die die Panzer kommen. Ihr Auftrag lautete, sichzu verstecken und Minen an den Panzern zu befestigen, wenn sie vorbeirollen. Weißt du, wie es gelaufen ist? «
Er nickte wieder. Er hatte die Leichen von Franjo und Mirko durch das Fernglas gesehen.
»Wären sie kleiner gewesen, hätten sie sich vielleicht in den Löchern im Boden verstecken können«, sagte Bobo.
Der Junge wischte sich mit der Hand den Rotz von der Nase. »Wie macht man die Minen an den Panzern fest?«
Im Morgengrauen des nächsten Tages näherte er sich kriechend wieder den eigenen Reihen. Er zitterte vor Kälte und war über und über mit Schlamm bedeckt, aber hinter ihm am Wall standen zwei gesprengte serbische Panzer, aus deren Dachluken der Qualm quoll. Bobo zog ihn in den Schützengraben und rief triumphierend: »Uns ist ein kleiner Erlöser geboren!«
Nachdem Bobo noch am gleichen Tag die Meldung diktiert hatte, die ins Hauptquartier im Zentrum gefunkt werden sollte, stand sein Codename fest. Dieser Name begleitete ihn, als die Serben seine Heimatstadt okkupierten und zerstörten, Bobo töteten, die Ärzte und Patienten im Krankenhaus massakrierten und gefangen nahmen und alle folterten, die Widerstand leisteten. Seine Signatur war ein bitteres Paradoxon. Ein Name, den ihm einer der vielen gegeben hatte, die er nicht hatte retten können. Mali spasitelj . Der kleine Erlöser.
Ein roter Bus näherte sich durch den Nebel.
*
Als Harry ankam, tönten leise Stimmen und gedämpftes Lachen aus dem Sitzungszimmer in der roten Zone der sechsten Etage. Er konnte feststellen, dass er sein Erscheinen richtig getimt hatte. Zu spät für das einleitende Geschwafel, den Kuchen und die Sticheleien und Witzchen, zu denen Männer neigen, wenn sie von jemand Abschied nehmen müssen, den sie mögen. Aber er kam rechtzeitig für die Geschenkübergabe und die etwas zu langen, salbungsvollen Reden, auf die Männer zurückgreifen, wenn sie vor Publikum sprechen.
Harry ließ seinen Blick durch das Sitzungszimmer schweifen und fand die Gesichter der drei, die ihm wirklich freundlich gesinnt waren.Seinen abtretenden Chef Bjarne Møller. Kommissar Halvorsen. Und Beate Lønn, die junge Leiterin der Kriminaltechnik. Niemand von den anderen sah ihn an, und auch er schenkte den
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