Der Erl�ser
anderen keine Beachtung. Harry war sich darüber im Klaren, dass er im Dezernat für Gewaltverbrechen nicht gerade beliebt war. Møller hatte einmal gesagt, dass es nur eine Sache gebe, die die Menschen weniger mochten als einen mürrischen Alkoholiker, und das sei ein großer, mürrischer Alkoholiker. Harry war ein 193 Zentimeter großer mürrischer Alkoholiker, und die Tatsache, dass er außerdem ein fantastischer Ermittler war, machte die Sache kaum besser. Alle wussten, dass er ohne die schützende Hand von Bjarne Møller längst aus den Reihen des Korps entfernt worden wäre. Und dass man in der Polizeispitze nur auf Harrys ersten Fehltritt wartete. Was ihn jetzt schützte, war paradoxerweise das, was ihn über die Jahre hinweg zum ewigen Außenseiter hatte werden lassen: Er hatte einen der Ihren zur Strecke gebracht. Den Prinzen. Tom Waaler. Der Hauptkommissar des Dezernats für Gewaltverbrechen war einer der Hintermänner des umfassenden Waffenschmuggels gewesen, unzählige Waffen waren in den letzten Jahren so nach Oslo gekommen. Tom Waaler hatte sein Ende in einer Blutlache im Keller eines Wohnheims in Kampen gefunden, und in einer kurzen Zeremonie in der Kantine war Harry dafür drei Wochen später vom Kriminalchef gewürdigt worden. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte er ihm seine Anerkennung für diese Säuberung in den eigenen Reihen aussprechen müssen. Und Harry hatte »danke« gesagt und seinen Blick über die Versammelten schweifen lassen, nur um zu überprüfen, ob ihn auch nur ein Einziger ansah. Eigentlich hatte er seine Dankesrede auf dieses eine Wort beschränken wollen, aber der Anblick der abgewandten Gesichter mit ihrem verkrampften Lächeln hatte ihn so wütend gemacht, dass er hinzugefügt hatte:
»Für den, der mich feuern will, wird es jetzt wohl ein bisschen schwieriger werden. Die Presse könnte ja auf die Idee verfallen, dass dieser Jemand Angst hat, ich könnte auch ihm auf die Schliche kommen.«
In diesem Moment hatten sie ihn endlich angesehen. Mit ungläubigen Gesichtern. Er hatte aber trotzdem weitergeredet:
»Da braucht ihr gar keine großen Augen zu machen, Leute. TomWaaler war Hauptkommissar hier im Dezernat, er brauchte diese Position, um zu tun, was er getan hat. Er nannte sich 'der Prinz‹, und ihr alle wisst « Hier hatte Harry eine Pause gemacht und von einem zum anderen geblickt, bis seine Augen beim Kriminalchef hängen blieben: »... wo es einen Prinzen gibt, gibt es in der Regel auch einen König.«
»Na, alter Mann, in Gedanken versunken?«
Harry blickte auf. Es war Halvorsen.
»Ich musste nur gerade an Könige denken«, murmelte Harry und nahm den Kaffee entgegen, den ihm sein junger Kollege reichte.
»Ja, da steht der neue«, sagte Halvorsen und deutete nach vorne.
Neben dem Tisch mit den Geschenken stand ein Mann im blauen Anzug, der sich mit dem Kriminalchef und Bjarne Møller unterhielt.
»Gunnar Hagen?«,fragte Harry, den Mund voller Kaffee. »Das ist der neue Dezernatsleiter?«
»Das heißt nicht mehr Dezernatsleiter, Harry.«
»Nicht?«
»KOK. Kriminaloberkommissar. Es ist schon mehr als vier Monate her, dass sie die Bezeichnung der Dienstgrade geändert haben.«
»Wirklich? Vielleicht war ich an dem Tag krank. Bist du denn noch immer Kommissar?«
Halvorsen lächelte.
Der neue Kriminaloberkommissar wirkte durchtrainiert und jünger als die 53 Jahre, die im Rundschreiben erwähnt worden waren. Eher mittelgroß als groß, stellte Harry fest. Und mager. Ein Netz klar definierter Muskeln an Kiefer und Hals deuteten auf einen asketischen Lebenswandel hin. Der Mund war gerade, das Kinn streckte sich entschlossen vor. Man konnte dahinter Energie vermuten – oder einfach einen Unterbiss.
Hagens schwarze Haare lagen in einem Kranz um eine kahle Stelle, waren aber so dick und dicht, dass man den neuen KOK beinahe verdächtigen konnte, einen exzentrischen Frisurengeschmack zu haben. Die kräftigen, diabolisch geformten Augenbrauen deuteten auf jeden Fall darauf hin, dass Haare in diesem Körper einen guten Nährboden fanden.
»Kommt direkt vom Militär«, sagte Harry. »Vielleicht kriegen wir jetzt Morgenappelle?«
»Er soll ein guter Polizist gewesen sein, ehe er die Weidegründe gewechselt hat. «
»Du meinst, wenn man davon ausgeht, was er über sich selbst in diesem Rundschreiben geschrieben hat?«
»Gut zu hören, dass du so positiv eingestellt bist, Harry. «
»Ich, ja? Ich bin schließlich immer bereit, neuen Menschen eine faire Chance zu
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