Der Erl�ser
wusste, dass er gleich aufgebracht losschnauben und sie um Hilfe bitten würde.
Als am Morgen der Anruf aus dem Präsidium mit der Nachricht von Jack Halvorsens Tod gekommen war, hatte Gunnar gesagt, er wolle oder könne an so einem Tag in kein Konzert gehen. Und sie wusste, dass es eine zergrübelte Woche werden würde. Manchmal fragte sie sich, ob sonst noch jemand wusste, wie nah Gunnar solche Dinge gingen. Aber wie auch immer, im Laufe des Tages hatte der Polizeichef angerufen und Gunnar gebeten, trotzdem im Konzerthaus zu erscheinen, weil sich die Heilsarmee entschlossen habe, Jack Halvorsen mit einer Schweigeminute zu gedenken, und da müsse die Polizei natürlich durch Halvorsens Vorgesetzten repräsentiert sein. Sie konnte sehen, dass er sich nicht freute, der Ernst hatte sich um seine Stirn gelegt wie ein enger Stahlring.
Er schnaubte und riss sich die Fliege herunter: »Lise!«
»Ich bin schon hier«, sagte sie ruhig, trat hinter ihn und streckte die Hand aus. » Gib her. «
Das Telefon klingelte auf dem Tischchen unter dem Spiegel. Er beugte sich hinunter und nahm ab: »Hagen.«
Er hörte eine ferne Stimme am anderen Ende.
»Guten Abend, Harry«, sagte Gunnar. »Nein, ich bin zu Hause. Meine Frau und ich wollen heute in das Konzert im Konzerthaus, deswegen bin ich eher gegangen. Gibt’s was Neues?«
Lise Hagen sah, wie sich der imaginäre Ring noch weiter zuzog, während er lange schweigend zuhörte.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich rufe die Kriminalwache an und schlage Alarm. Wir werden alle verfügbaren Männer dransetzen. Ich fahre jetzt gleich ins Konzerthaus und werde ein paar Stunden dort sein, aber ich habe das Handy die ganze Zeit auf Vibrationsalarm, Sie können also einfach anrufen.«
Er legte auf.
»Was ist los?«, fragte Lise.
»Einer meiner Hauptkommissare, Harry Hole, kommt gerade von der Materialausgabe, wo er sich mit einem Ausgabeschein, denich ihm ausgestellt habe, eine Waffe holen sollte. Dieser Schein war der Ersatz für einen anderen, der bei einem Einbruch in seiner Wohnung weggekommen ist. Jetzt hat sich herausgestellt, dass heute jemand mit diesem Schein da war und sich eine Waffe und Munition geholt hat. «
»Das ist ja die Höhe «, sagte Lise.
»Allerdings«, seufzte Gunnar Hagen. »Aber es kommt leider noch schlimmer. Harry hatte einen Verdacht, wer das gewesen sein kann. Er hat deshalb in der Gerichtsmedizin angerufen, und die haben seinen Verdacht bestätigt.«
Lise stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass das Gesicht ihres Mannes ganz grau wurde. Als gingen ihm die Konsequenzen dessen, was Harry gesagt hatte, erst in dem Moment auf, als er es seiner Frau wiederholte:
»Die Blutprobe des Mannes, den wir im Containerhafen erschossen haben, zeigt, dass es sich nicht um denselben Mann handelt, der sich neben Halvorsen erbrochen und Blutspuren auf dessen Mantel hinterlassen hat. Oder dessen Haare wir im Obdachlosenheim gefunden haben. Kurz gesagt, der Mann, den wir erschossen haben, ist nicht Christo Stankic. Wenn Harry recht hat, bedeutet das, dass dieser Stankic noch immer irgendwo dort draußen herumläuft. Mit einer Waffe.«
»Ja, aber … dann kann er ja noch immer auf der Jagd nach diesem armen Mann sein, wie hieß er doch gleich?«
»Jon Karlsen. Ja. Und deshalb muss ich die Kriminalwache anrufen und alles zusammentrommeln, was wir haben, um nach Jon Karlsen und Stankic zu suchen.« Er presste die Handballen auf die Augen, als säße dort der Schmerz. »Und Harry hat gerade einen Anruf von einem Kollegen bekommen, der in Robert Karlsens Wohnung eingedrungen ist, um nach Jon zu suchen.«
»Ja und?«
»Es sah aus, als hätte dort ein Kampf stattgefunden. Und das Bettzeug war voller Blut, Lise. Aber kein Jon Karlsen, nur ein Taschenmesser unter dem Bett mit schwarzem, angetrockneten Blut an der Klinge.«
Er nahm die Hände vom Gesicht, und sie sah im Spiegel, dass seine Augen rot geworden waren.
»Das ist alles so schrecklich, Lise.«
»Das verstehe ich doch, Gunnar, Liebling. Aber … aber wen habt ihr dann im Containerhafen erschossen?«
Gunnar Hagen schluckte schwer, ehe er antwortete: »Wir wissen es nicht, Lise. Wir wissen nur, dass er in einem der Container hauste und Heroin im Blut hatte.«
»Mein Gott, Gunnar «
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und suchte im Spiegel seinen Blick.
»Am dritten Tag auferstanden von den Toten«, flüsterte Gunnar Hagen.
»Was?«
»Der Erlöser. Wir haben ihn Samstagnacht getötet. Heute ist Dienstag.
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