Der Erl�ser
Der dritte Tag.«
*
Martine Eckhoff war so schön, dass Harry der Atem stockte.
»Hallo, bist du das?«, sagte sie mit der tiefen Altstimme, die Harry an ihre erste Begegnung im Fyrlyset erinnerte. Damals hatte sie Uniform getragen. Jetzt stand sie in einem einfachen, eleganten ärmellosen Kleid vor ihm, das schwarz glänzte wie ihre Haare. Ihre Augen wirkten noch größer und dunkler als sonst, und ihre weiße Haut sah zart, beinahe durchsichtig aus.
»Ich bin dabei, mich aufzudonnern«, sagte sie lachend. »Guck!« Sie hob die Hand. Eine für Harry unbegreiflich weiche Bewegung, wie eine Szene aus einem Tanz, die Verlängerung einer anderen, ebenso graziösen Sequenz. In ihren Fingern hielt sie eine weiße, tropfenförmige Perle, die das sparsame Licht im Treppenhaus vor ihrer Wohnung reflektierte. Die andere Perle hing an ihrem Ohr.
»Komm rein«, sagte sie, trat einen Schritt zurück und ließ die Tür los.
Harry trat über die Schwelle und nahm sie in den Arm. »Wie schön, dass du gekommen bist«, sagte sie, zog seinen Kopf zu sich nach unten und blies ihm warme Luft ins Ohr, als sie flüsterte:
»Ich hab die ganze Zeit an dich gedacht.«
Harry schloss die Augen, drückte sie fest an sich und spürte die Wärme ihres kleinen katzenweichen Körpers. Es war das zweiteMal im Laufe nur eines Tages, dass er sie so in den Armen hielt. Und er wollte nicht loslassen. Denn er wusste, dass es das letzte Mal war.
Ihr Ohrring presste sich wie eine bereits kalte Träne unter seinem Auge an seine Wange.
Er machte sich frei.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
»Setzen wir uns einen Moment?«, bat Harry. »Wir müssen reden.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, und sie setzte sich aufs Sofa. Harry stellte sich ans Fenster und blickte nach unten auf die Straße.
»Da sitzt einer in einem Auto und guckt hoch«, sagte er.
Martine seufzte. »Das ist Rikard. Er wartet auf mich, er soll mich ins Konzerthaus fahren.«
»Hm. Weißt du, wo Jon ist, Martine?« Harry konzentrierte sich auf die Spiegelung ihres Gesichts im Fenster.
»Nein«, antwortete sie und erwiderte seinen Blick. »Wie kommst du darauf, dass ich das wissen könnte? Ich meine, weil du so komisch fragst.« Das Zuckersüße war aus ihrer Stimme verschwunden.
»Wir sind gerade in Roberts Wohnung eingebrochen, weil wir annehmen, dass Jon sie benutzt hat«, sagte Harry. »Wir haben ein blutiges Bett vorgefunden.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Martine. Sie klang wirklich überrascht.
»Ich weiß, dass du das nicht wusstest«, sagte Harry. » Die Rechtsmedizin überprüft gerade die Blutgruppe. Das heißt, sie haben sie bestimmt längst. Und ich glaube ziemlich sicher zu wissen, zu welchem Ergebnis sie gekommen sind.«
»Jon?«, fragte sie atemlos.
»Nein«, sagte Harry. »Aber das hättest du wohl gern?« »Warum sagst du das?«
»Weil es Jon war, der dich vergewaltigt hat. «
Es wurde ganz still im Zimmer. Harry hielt den Atem an, so dass er hören konnte, wie sie nach Luft schnappte und sie dann wieder ausstieß, lange bevor sie die Lungen erreicht hatte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Zittern in der Stimme.
»Weil du erzählt hast, dass es auf dem Østgård passiert ist, und es trotz allem nicht so viele Männer gibt, die vergewaltigen. Und Jon Karlsen gehört dazu. Das Blut in Roberts Bett stammt von einem Mädchen mit Namen Sofia Miholjec. Sie kam gestern Abend in Roberts Wohnung, weil Jon es ihr befohlen hatte. Wie vereinbart schloss sie die Tür mit dem Schlüssel auf, den sie seinerzeit von Robert, ihrem besten Freund, bekommen hatte. Nachdem Jon sie genommen hatte, verprügelte er sie. Sie hat mir erzählt, dass das manchmal vorkam.«
»Manchmal?«
»Nach Sofias Angaben hat Jon sie zum ersten Mal an einem Nachmittag im letzten Sommer vergewaltigt. In der Wohnung der Familie Miholjec, während die Eltern außer Haus waren. Jon verschaffte sich Zutritt unter dem Vorwand, die Wohnung inspizieren zu wollen. Schließlich war das ja Teil seines Jobs. Wie es auch zu seinem Job gehörte, zu entscheiden, wer seine Wohnung behalten durfte und wer nicht.«
»Du meinst … er hat sie bedroht?«
Harry nickte. »Er hat ihr gesagt, ihre Familie würde ausgewiesen, wenn Sofia nicht alles für sich behielt. Glück und Unglück der Familie hänge ganz von ihm ab. Und von ihrer Fügsamkeit. Das arme Mädchen wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. Doch als sie dann schwanger wurde, brauchte sie jemand, der ihr half.
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