Der Erl�ser
»Wahrscheinlich wünsche ich mir deshalb auch ... «, begann sie, verstummte dann aber wieder.
»Ja? «
»... dass er unschuldig ist und nichts damit zu tun hat. «
»Dieser Wunsch sei dir erfüllt.« Harry sah auf die Uhr. In fünfzehn Minuten sollten sie da sein.
Martine sah ihn verwirrt an. »Du ... glaubst aber doch wohl nicht...?«
»Was?«
»Du willst damit doch wohl nicht sagen, dass Vater von der Vergewaltigung wusste? Dass er ... dass ... «
»Nein, dein Vater hat nichts damit zu tun. Den Mord an Jon Karlsen hat niemand anders in Auftrag gegeben als ... «
Plötzlich waren sie aus dem Tunnel heraus, und ein schwarzer Sternenhimmel hing über weiß phosphoreszierenden Äckern.
» ... als Jon Karlsen selbst.«
*
Die Frau in der SAS-Uniform reichte Jon mit einem mittelweiß gebleichten Lächeln das Ticket und drückte auf den Knopf vor sich. Über ihnen ertönte eine leise Glocke, und der nächste Kunde näherte sich, wobei er die Wartenummer wie eine Machete schwang. Jon drehte sich um und ließ den Blick durch die große Abflughalle schweifen. Er war nicht zum ersten Mal hier, hatte aber an diesem Ort noch nie zuvor so viele Menschen gesehen. Der Lärm der Stimmen, Schritte und Durchsagen hallte bis unters Dach, das sich hoch über ihnen wölbte wie das Dach einer Kirche. Eine erwartungsvolle Kakophonie, ein Sammelsurium aus Sprachen und Satzfetzen, die er nicht verstand. Weihnachten nach Hause. Weihnachten in die Ferien. Die Reihen der Wartenden vor den Eincheckschaltern wanden sich wie überfressene Riesenschlangen zwischen den Absperrbändern.
Luft holen, sagte er zu sich selbst. Du hast reichlich Zeit. Sie wissen nichts. Noch nicht. Vielleicht werden sie auch nie dahinterkommen. Er stellte sich hinter eine ältere Frau und bückte sich, um ihr mit ihrem Koffer zu helfen, als sich die Schlange zwanzig Zentimeter vorwärts bewegte. Sie drehte sich dankbar lächelnd um, und er konnte sehen, dass ihre Haut nur noch eine leichenblasse Hülle war, die sich über einem Totenschädel spannte.
Er erwiderte ihr Lächeln und wandte sich endlich wieder um. Doch durch den Lärm der Lebendigen hörte er noch immer ihrSchreien. Dieses unerträgliche, andauernde Kreischen, als versuchte sie den brüllenden Elektromotor zu übertönen.
Als er im Krankenhaus lag und hörte, die Polizei wolle seine Wohnung durchsuchen, war ihm bewusst geworden, dass sie den Vertrag mit Gilstrup Invest finden könnten, der in einer Schatulle lag. Die Papiere, auf denen schwarz auf weiß stand, dass Jon fünf Millionen bekommen sollte, wenn der Vorstand das Angebot annahm. Unterzeichnet von Albert und Mads Gilstrup. Nachdem ihn die Polizei in Roberts Wohnung gebracht hatte, war er von dort zur Gøteborggata gelaufen, um den Vertrag zu holen. Doch es war bereits jemand dort gewesen. Ragnhild. Sie hatte ihn nicht gehört, weil der Staubsauger lief, sie saß daneben auf einem Stuhl und hielt den Vertrag in den Händen. Sie wusste es, hatte alles gesehen, seine Sünden erkannt, wie damals seine Mutter die Spermaflecken auf dem Bettzeug. Und wie Mutter würde Ragnhild ihn demütigen, ihn zerstören, es allen erzählen. Auch Vater. Sie durfte das nicht sehen. Ich habe ihr die Augen genommen, dachte er. Aber sie schreit noch immer.
*
»Bettler lehnen keine Almosen ab«, sagte Harry. »Das liegt in der Natur der Sache. Diese Erkenntnis ist mir in Zagreb gekommen. Oder genauer – sie ist mir zugeflogen. In Form einer norwegischen Zwanzig-Kronen-Münze, die mir jemand an den Kopf warf. Und als ich sah, wie sie sich am Boden drehte, erinnerte ich mich daran, dass die Spurensicherung tags zuvor eine kroatische Münze im Schnee neben dem Laden an der Ecke der Gøteborggata gefunden hatte. Sie wurde automatisch mit Stankic in Verbindung gebracht, weil die Stelle auf Stankics Fluchtweg lag, nachdem Halvorsen am anderen Ende der Straße niedergestochen worden war. Ich bin von Natur aus ein Zweifler, aber als ich diese Münze in Zagreb sah, kam es mir vor, als wollte mir eine höhere Macht ein Zeichen geben. Bei meinem ersten Treffen mit Jon warf ihm ein Bettler eine Münze hinterher. Ich weiß noch, wie ich mich darüber gewundert habe, dass dieser Bettler keine Almosen wollte. Gestern hab ich den Mann in der Deichmann’schen Bibliothek gefunden. Ich habe ihm die Münze gezeigt, die die Spurensicherung gefunden hat. Er bestätigte,dass es eine ausländische Münze war, die er Jon hinterhergeworfen hatte, und dass es gut und
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