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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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Haaren zu, der links neben ihr saß.
    »Hallo, ich heiße Harry«, sagte der Mann mit etwas belegter Stimme. Das feine Netz roter Adern auf der kräftigen Nase zeugte von einem langen Leben jenseits der Nüchternheit. »Ich bin Alkoholiker. «
    »Hallo, Harry. «
    »Ich bin noch neu hier. Das ist heute meine sechste oder siebte Sitzung. Und ich bin mit dem Ersten Schritt noch nicht fertig. Das heißt, ich weiß, ich bin Alkoholiker, aber ich glaube, das steuern zu können. Es ist in gewisser Weise wohl paradox, dass ich hier sitze. Aber ich bin wegen eines Versprechens hier, das ich einem Psychologen gegeben habe, einem Freund, der mir nur Gutes will. Er meinte, ich würde bestimmt einen positiven Effekt spüren, wenn ich das anfängliche Gerede über Gott und das Geistige erst einmal hinter mir hätte. Tja, ich weiß nicht, ob sich die Anonymen Alkoholiker selbst helfen können, aber ich bin bereit, es auszuprobieren. Warum nicht?«
    Er drehte sich nach links, um zu signalisieren, dass er fertig war. Doch ehe der Applaus richtig begann, wurde er von Astrid unterbrochen: »Es ist ja das erste Mal, dass du hier bei unseren Sitzungen etwas sagst, Harry. Ich freue mich darüber. Aber vielleicht verrätst du uns noch etwas mehr, jetzt, da du das Wort hast?«
    Harry sah sie an. Die anderen auch, denn es war ein klarer Verstoß gegen ihre Regeln, Druck auf jemand in der Gruppe auszuüben. Ihr Blick hielt dem seinen stand. Er hatte ihn auch schon bei den früheren Sitzungen gespürt, war ihm aber bis auf einmal immer ausgewichen. Und schließlich hatte er sie einmal von Kopf bis Fuß und wieder zurück gemustert. Ihm hatte gefallen, was er gesehen hatte, vor allem die Tatsache, dass ihr Gesicht rötlich glänzte, als sein Blick wieder oben angekommen war. Und bei der nächsten Sitzung war er Luft für sie gewesen.
    »Nein, danke«, sagte Harry.
    Zögernder Applaus.
    Harry beobachtete sie aus den Augenwinkeln, als sein Nebenmann zu sprechen begann.
    Nach der Sitzung wollte sie wissen, wo Harry wohnte, und bot ihm an, ihn ein Stück mitzunehmen. Harry zögerte, während der Chor über ihnen nachdrücklich den Herrn pries.
    Anderthalb Stunden später rauchten sie still ihre Zigaretten und beobachteten, wie der Qualm das Dunkel des Schlafzimmers blau färbte. Die feuchten Laken auf Harrys schmalem Bett waren noch immer warm, aber es war so kalt im Raum, dass sich Astrid die dünne weiße Decke bis ans Kinn gezogen hatte.
    »Das war wunderbar«, sagte sie.
    Harry gab keine Antwort. Aber er hatte ihre Bemerkung ja auch nicht als Frage aufgefasst.
    »Ich bin gekommen«, sagte sie. »Und das beim ersten Mal mit dir. Das ist nicht «
    »Dein Mann ist also Arzt?«, fragte Harry.
    »Das hast du mich schon mal gefragt. Und die Antwort lautet noch immer ja. «
    Harry nickte. »Hörst du dieses Geräusch?«
    »Was für ein Geräusch?«
    »Dieses Ticken. Ist das deine Uhr?«
    »Ich habe keine Uhr. Das muss deine sein.«
    »Meine ist digital, die tickt nicht.«
    Sie legte ihm eine Hand auf die Hüfte. Harry schob sich aus dem Bett und spürte das eiskalte harte Linoleum unter seinen Fußsohlen. »Willst du ein Glas Wasser?«
    »Mhm.«
    Harry ging ins Bad und betrachtete sein Spiegelbild, während das Wasser lief. Was hatte sie gesagt? Dass sie die Einsamkeit in seinen Augen sehen könne? Er beugte sich vor, erkannte aber nichts anderes als eine blaue Iris, eine kleine Pupille und das Delta der Adern im Weiß. Als Halvorsen erfahren hatte, dass es mit Rakel aus war, hatte er ihm geraten, er solle sich mit einer anderen Frau trösten. Wobei er das viel poetischer ausgedrückt hatte: sich die Melancholie aus dem Leibe ficken. Aber Harry hatte weder gewollt noch gekonnt.Weil er wusste, dass jede Frau, die er berührte, zu Rakel werden würde. Und er musste sie vergessen, sie aus seinem Blut bekommen. Und zwar ohne Liebes-Methadonprojekt.
    Aber vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht hatte Halvorsen wirklich recht. Denn es fühlte sich gut an. Es war wunderbar gewesen. Und statt der Leere, die sich einstellt, wenn man eine Begierde mit einer anderen zu stillen versucht, fühlte er sich aufgeladen. Und gleichzeitig entspannt. Sie hatte sich bedient. Und ihm hatte gefallen, wie sie das gemacht hatte. Vielleicht war es ja wirklich so einfach, auch für ihn?
    Er trat einen Schritt zurück und betrachtete seinen Körper im Spiegel. Er war im Laufe des letzten Jahres dünner geworden. Weniger Fett, aber auch weniger Muskeln. Langsam begann er

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