Der Erl�ser
immer gewundert, dass es ihm nicht anzusehen war, dass er keinen schwarzen Glorienschein mit sich herumtrug, keine Kälte verströmte – oder den Geruch der Verwesung.
Besser gesagt, dass es die anderen nicht auch bemerkten. Draußen spielte die Rathausuhr sechsmal hintereinander ihre drei Töne ab.
*
»Angenehmes Lokal«, sagte Thea und sah sich um. Das Restaurant war übersichtlich, und von ihrem Tisch aus konnte man auf die Straße blicken. Aus versteckten Lautsprechern rieselte kaum hörbare Musik, meditative New-Age-Klänge.
»Ich wollte etwas Besonderes«, sagte Jon und warf einen Blick in die Speisekarte. »Was willst du essen?«
Theas Blick schweifte planlos über die Gerichte. »Zuerst muss ich ein bisschen Wasser trinken.«
Thea trank viel Wasser. Jon wusste, dass das etwas mit ihrer Zuckerkrankheit und ihren Nieren zu tun hatte.
»Es ist wirklich nicht leicht, etwas auszuwählen«, sagte sie. »Das hört sich alles so gut an.«
»Man kann aber nicht alles essen, was auf der Speisekarte steht.« »Nein «
Jon schluckte. Die Worte waren ihm einfach so herausgerutscht. Er sah auf. Thea schien nichts gemerkt zu haben.
Plötzlich hob sie den Kopf: »Wie hast du das gerade gemeint?« »Was?«, fragte er leichthin.
»›Alles auf der Speisekarte.‹ Damit wolltest du doch was sagen. Ich kenn dich doch, Jon. Was ist los?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wir waren uns doch einig, dass wir uns alles erzählen, bevor wir uns verloben, nicht wahr?«
»Ja, und?«
»Bist du sicher, dass du mir … alles erzählt hast?«
Sie seufzte resigniert. »Ich bin mir sicher, Jon. Ich war mit niemand zusammen. Nicht … so, wie du es meinst.«
Aber er sah etwas in ihrem Blick, etwas in ihrem Gesicht, das er zuvor noch nicht gesehen hatte. Einen Muskel am Mund, der sich anspannte, etwas Schwarzes in ihren Augen, das sich wie eine Blende verengte. Und er konnte es einfach nicht lassen. »Auch nicht mit Robert?«
»Was?«
»Robert. Ich weiß doch noch, wie ihr zwei in diesem ersten Sommer auf dem Østgård miteinander geflirtet habt.«
»Damals war ich vierzehn, Jon! «
»Ja und?«
Sie starrte ihn zuerst ungläubig an. Dann wandte sie sich irgendwie nach innen, erlosch und war plötzlich wie abwesend. Für ihn. Jon schloss seine Hände um ihre, beugte sich vor und flüsterte:
»Verzeih mir, verzeih, Thea. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich … können wir nicht vergessen, dass ich gefragt habe?«
»Haben Sie schon gewählt?«
Beide sahen zum Kellner auf.
»Als Vorspeise nehmen wir frischen Spargel«, sagte Thea und reichte ihm die Speisekarte. »Und als Hauptgang Chateaubriand mit Steinpilzen.«
»Eine gute Wahl. Darf ich Ihnen dazu einen sehr guten, günstigen Rotwein anbieten, den wir gerade bekommen haben?«
»Das dürfen Sie, aber Wasser ist auch gut«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Viel Wasser.«
Jon sah sie an. Er bewunderte ihre Fähigkeit, ihre Gefühle zu verbergen.
Als der Kellner gegangen war, richtete Thea ihren Blick auf Jon: »Wenn du mit deinem Verhör fertig bist, kannst du mir ja mal erzählen, wie das bei dir so ist. «
Jon lächelte dünn und schüttelte den Kopf.
»Willst du sagen, du hattest nie eine Freundin?«, fragte sie. »Nicht einmal auf dem Østgård? «
»Und weißt du warum?«, erwiderte Jon und legte wieder eine Hand auf ihre.
Sie schüttelte den Kopf.
»Weil ich mich in diesem Sommer in ein Mädchen verliebt habe«, sagte Jon und sah ihr in die Augen. »Sie war erst vierzehn Jahre alt. Aber ich liebe sie noch immer.«
Er lächelte, und sie lächelte, und er sah, dass sie wieder aus ihrem Versteck hervor- und zu ihm zurückkam.
*
»Eine wunderbare Suppe«, sagte der Sozialminister zu Kommandeur David Eckhoff. Aber laut genug, dass auch die anwesende Presse es mitbekam.
»Unser eigenes Rezept«, sagte der Kommandeur. »Wir haben vor ein paar Jahren ein Kochbuch herausgegeben, das vielleicht auch für den Herrn Minister «
Auf ein Zeichen ihres Vaters trat Martine an den Tisch und legte das Buch neben den Suppenteller des Ministers.
»... interessant ist, wenn er sich etwas Gutes, Gehaltvolles kochen möchte.«
Die wenigen Journalisten und Fotografen, die ins Fyrlyset gekommen waren, kicherten belustigt. Ansonsten war der Raum spärlich besetzt: nur ein paar ältere Männer aus dem Männerheim, eine verweinte Frau in einem Mantel und ein verletzter Drogenabhängiger, der eine blutende Wunde auf der Stirn hatte und wie
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