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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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Espenlaub zitterte, weil ihm davor graute, in die Feldambulanz im ersten Stock zu gehen. Es war aber nicht verwunderlich, dass nur so wenige Leute da waren, das Fyrlyset hatte um diese Uhrzeit normalerweise gar nicht geöffnet. Leider hatte ein Besuch am Vormittag nicht in den Terminkalender des Ministers gepasst, so dass er nicht miterleben konnte, wie voll es hier normalerweise war. All das wurde ihm aber vom Kommandeur erklärt. Und natürlich auch, wie effektiv und mit welchen Kosten das Café betrieben wurde. Der Sozialminister nickte, während er pflichtbewusst noch einen Löffel Suppe nahm.
    Martine sah auf die Uhr. Viertel vor sieben. Neunzehn NullNull, hatte der Sekretär des Ministers gesagt. Dann mussten sie gehen.
    »Herzlichen Dank für das Essen«, sagte der Sozialminister. »Haben wir noch Zeit, ein paar von den Gästen zu begrüßen?«
    Der Staatssekretär nickte.
    Koketterie, dachte Martine. Natürlich hatten sie dafür Zeit, schließlich waren sie deshalb gekommen. Nicht um Geld zu bewilligen, das ging auch telefonisch. Nein, sie waren gekommen, um die Presse einzuladen und einen Sozialminister zu präsentieren, der sich unter denen bewegte, die ihn brauchten, der Suppe aß, den Drogensüchtigen die Hände schüttelte und ihnen voller Empathie und Engagement zuhörte.
    Die Pressesprecherin signalisierte den Fotografen, dass sie ihre Bilder machen konnten. Oder besser gesagt, dass sie es gerne sehen würde, wenn sie jetzt fotografierten.
    Der Sozialminister stand auf und knöpfte sich die Jacke zu, während er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Martine hatte eine Vermutung, wie er die drei Alternativen einschätzte: Die beiden alten Männer sahen aus wie Altenheimbewohner und entsprachen nicht den Anforderungen: Minister begrüßt Drogenabhängigen X oder Prostituierte Y. Der verletzte Junkie schien unberechenbar, und das war vermutlich auch schon zu viel des Guten. Aber die Frau Sie sah aus wie eine ganz gewöhnliche Bürgerin, eine, mit der sich alle identifizieren konnten und der jeder helfen würde, erst recht, wenn sie ihre herzzerreißende Geschichte gehört hatten.
    »Wäre es Ihnen recht, einen Moment an meinen Tisch zu kommen? «, fragte der Minister und streckte ihr die Hand entgegen.
    Die Frau blickte zu ihm auf. Der Minister nannte seinen Namen.
    »Pernille «, begann die Frau, wurde aber vom Minister unterbrochen.
    »Der Vorname reicht, Pernille. Die Presse ist anwesend, wissen Sie. Sie würden gerne ein Bild machen, wenn Sie einverstanden sind?«
    »Holmen«, sagte die Frau und schniefte in ihr Taschentuch. »Pernille Holmen.« Sie deutete auf einen Tisch, auf dem einige Bilder standen, vor denen eine Kerze brannte. »Ich bin hier, um meines Sohnes zu gedenken. Lassen Sie mich bitte in Frieden?«
    Martine blieb am Tisch bei der Frau stehen, während sich der Sozialminister samt Gefolge rasch wieder zurückzog. Sie bemerkte, dass sie sich jetzt doch auf die Alten konzentrierten.
    »Es tut mir so leid, was mit Per geschehen ist«, sagte Martine leise.
    Die Frau sah zu ihr auf. Ihr Gesicht war vom Weinen ganz verschwollen. Und von den Medikamenten, dachte Martine. »Kannten Sie Per?«, fragte sie flüsternd.
    Martine zog die Wahrheit vor. Auch wenn es der schwerere Weg war. Nicht aufgrund ihrer Erziehung, sondern weil sie herausgefunden hatte, dass das Leben dadurch auf lange Sicht einfacher wurde. Doch in der tränenerstickten Stimme hörte sie ein deutliches Flehen. Den inständigen Wunsch, dass jemand sagte, ihr Sohn sei nicht bloß einer von diesen drogenabhängigen Robotern gewesen, eine Bürde, die die Gesellschaft nun endlich los war, sondern ein Mensch, von dem jemand sagen konnte, dass er ihn gekannt hatte, sein Freund gewesen war, ja, ihn vielleicht sogar gern gehabt hatte.
    »Frau Holmen«, sagte Martine und schluckte. »Ich kannte ihn. Er war ein netter Junge.«
    Pernille Holmen blinzelte zweimal, ohne etwas zu sagen. Sie versuchte zu lächeln, aber sie brachte nur eine Grimasse zuwege. Es gelang ihr gerade noch, ein »Danke« zu murmeln, ehe ihr die Tränen wieder über die Wangen liefen.
    Martine sah, dass der Kommandeur sie zu sich winkte, aber sie setzte sich trotzdem.
    »Sie sie haben mir auch meinen Mann genommen«, schluchzte Pernille Holmen.
    »Was?«
    »Die Polizei. Sie sagen, er hätte es getan.«
    Als Martine Pernille Holmens Tisch verließ, dachte sie an den großen, blonden Polizisten. Er hatte so aufrichtig gewirkt, als er sagte, der Fall berühre ihn.

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