Der Erl�ser
schwingenden Armen nach hinten kippte wie eine Puppe.
*
Harry fuhr auf seinem Stuhl zusammen. Er war eingeschlafen. Es war still im Zimmer. Was hatte ihn geweckt? Er lauschte, doch alles, was er hörte, war das gleichmäßige, leise, beruhigende Rauschen der Stadt. Obwohl – da war noch ein anderer Laut. Er horchte angestrengt. Da war es. Das Geräusch war kaum zu hören, aber sowie er es identifiziert hatte, nahm das Klangbild Gestalt an und wurde deutlicher. Es war ein leises Ticken.
Harry blieb mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl sitzen. Dann sprang er in plötzlicher Wut auf und stürmte, ohne nachzudenken,ins Schlafzimmer, riss die Schublade des Nachtschränkchens auf, packte Møllers Armbanduhr, öffnete das Fenster und warf die Uhr mit voller Wucht ins Dunkel. Er hörte, wie sie zuerst an die Wand des gegenüberliegenden Hauses knallte und danach auf den gefrorenen Asphalt der Straße fiel. Dann schloss er das Fenster, hakte die Riegel ein, ging zurück ins Wohnzimmer, stellte die Musik wieder an und drehte die Lautstärke auf. So laut, dass die Lautsprechermembran vor seinen Augen vibrierte, der Diskant wohlig in seine Trommelfelle stach und die Bässe seinen Mund füllten.
*
Die Zuschauer hatten sich von der Band abgewandt und starrten den Mann an, der im Schnee lag. Seine Uniformmütze war ihm vom Kopf gerutscht und bis zum Mikrofonständer des Bandleaders gerollt. Die Musiker hatten überhaupt nicht bemerkt, was geschehen war, und spielten weiter.
Die beiden Mädchen, die dem Mann im Schnee am nächsten standen, wichen zurück. Eine der beiden begann zu schreien.
Der Sänger, der bis jetzt mit geschlossenen Augen gesungen hatte, blickte auf und erkannte, dass er nicht mehr die Aufmerksamkeit des Publikums hatte. Er drehte sich um und entdeckte den Mann im Schnee. Sein Blick suchte nach einer Wache, einem Veranstalter, einem Tourneechef, jemand, der sich dieser Sache annehmen konnte, doch es war nur ein einfaches Straßenkonzert, jeder wartete darauf, dass jemand anders handelte, und die Begleitung spielte weiter.
Dann kam Bewegung in die Menschenmenge, die Leute traten zur Seite, und eine Frau kämpfte sich vor.
»Robert!«
Ihre Stimme war rau und heiser. Sie war blass und trug eine dünne schwarze Lederjacke mit Löchern an den Ellenbogen. Sie taumelte zu dem leblosen Mann und fiel neben ihm auf die Knie: »Robert!«
Sie legte einen dünnen Finger an seinen Hals. Dann zeigte sie zitternd auf die Band.
»Hört auf, verdammt noch mal! «
Die Musiker verstummten, einer nach dem anderen.
»Der Junge stirbt! Holt einen Arzt! Schnell!«
Sie legte die Hand wieder auf seinen Hals. Noch immer kein Puls. Sie hatte es schon so oft erlebt. Manchmal ging es gut, meistens aber nicht. Doch sie war verwirrt. Das konnte doch keine Überdosis sein, ein Junge der Armee hing doch nicht an der Nadel? Es hatte zu schneien begonnen, und die Flocken schmolzen auf seiner Wange, den geschlossenen Augen und dem halb geöffneten Mund. Er war ein hübscher Junge. Und sie dachte, dass er jetzt – mit so entspannten Zügen – wie ihr eigener Sohn aussah, wenn er schlief. Doch dann fiel ihr Blick auf den schmalen roten Streifen, der sich von dem kleinen schwarzen Loch in der Stirn schräg über die Schläfe bis zum Ohr zog.
Ein paar Arme packten sie und hoben sie zur Seite, als sich ein anderer Mann über den Jungen beugte. Sie erhaschte einen letzten Blick auf sein Gesicht, das Loch, und mit plötzlicher, schmerzhafter Gewissheit erkannte sie, dass dieses Schicksal auch ihrem Sohn blühte.
Er ging schnell. Nicht zu schnell, er floh nicht. Er beobachtete die Rücken vor sich, entdeckte einen, der es ein wenig eiliger hatte als die anderen, und heftete sich an dessen Fersen. Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten. Natürlich nicht. Das Knallen einer Pistole lässt die Menschen zurückweichen. Der Anblick einer Waffe lässt sie das Weite suchen. Und in diesem Fall hatten die meisten gar nicht mitbekommen, was geschehen war.
Der letzte Auftrag.
Er konnte hören, dass die Band noch immer spielte.
Es hatte zu schneien begonnen. Gut, denn so senkten die Menschen den Blick noch mehr, um ihre Augen zu schützen.
Ein paar hundert Meter weiter sah er das gelbe Bahnhofsgebäude. Wieder hatte er das vertraute Gefühl, alles war im Fluss und ihm konnte nichts geschehen, ein serbischer T-55-Kampfpanzer war nur ein träger Koloss aus Eisen, blind und taub, und seine Stadt würde wieder an ihrem Platz
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