Der Erl�ser
und der reinweißen Sclera. Und noch weniger in den manipulierten Ausschnitt. Sie musste – entgegen ihrer früheren Auffassung – feststellen, dass Geld nicht unbedingt Selbstvertrauen mit sich bringt. Später sollte sie erkennen, dass die Schuld für Mads’ verkümmerte Selbstachtung bei seinem brillanten, anspruchsvollen Vater zu suchen war, der Schwäche verachtete und nicht begreifen konnte, warum sein Sohn nicht etwas mehr nach ihm schlug.
Aber sie gab nicht auf und wand sich wie ein Köder vor Mads Gilstrup und zeigte sich dabei derart willig, dass die Mädchen, die sie ihre Freundinnen nannte – und umgekehrt–, flüsternd die Köpfe zusammensteckten. Doch dann – nach sechs amerikanischen Dünnbieren und dem langsam aufkeimenden Verdacht, dass Mads Gilstrup schwul sein könnte – begann sich das Wildpferd in offenes Terrain zu wagen, und nach zwei weiteren Bieren verließ Mads Gilstrup schließlich das Fest mit ihr.
Sie ließ sich von ihm besteigen, im Bett ihrer Zimmergenossin. Schließlich war es ein teures Paar Schuhe. Und als sich Ragnhild drei Minuten später mit der selbst gehäkelten Tagesdecke ihrer Freundin abtrocknete, wusste sie, dass sie ihm ein Halfter angelegt hatte. Geschirr und Sattel würden später folgen.
Nach dem Studium reisten sie als verlobtes Paar nach Hause. Mads Gilstrup sollte von nun an seinen Teil des Familienvermögens verwalten, in der sicheren Gewissheit, dass er nie gezwungen sein würde, sich die Hände schmutzig zu machen. Sein Job bestand einzig und allein darin, die richtigen Ratgeber zu finden.
Ragnhild bewarb sich und bekam eine Anstellung bei einem Fondsverwalter, der nie etwas von dieser mittelmäßigen Uni gehört hatte, wohl aber von Chicago. Ihm gefiel, was er hörte. Und sah. Er war nicht so brillant, aber anspruchsvoll, und fand so gesehen in Ragnhild eine Art Zwillingsseele. Relativ rasch wurde ihr deshalb der intellektuell etwas zu anstrengende Job als Aktienanalytikerinerlassen. Stattdessen setzte man sie hinter einen Bildschirm und ein Telefon an einen der Tische in der »Küche«, wie sie den Brokerraum nannten. Und hier konnte Ragnhild Gilstrup (sie hatte ihren Mädchennamen aus »praktischen« Gründen bereits nach der Verlobung aufgegeben) sich so richtig entfalten. Wenn es nicht reichte, den institutionellen und vermutlich professionellen Investoren des Fonds zum Kauf von Opticom zu raten, konnte sie schnurren, flirten, fauchen, manipulieren, lügen und weinen. Ragnhild Gilstrup konnte sich in einer Art und Weise an einem Paar Männerbeine emporschmiegen – zur Not auch an Frauenbeinen –, die die Aktien viel effektiver an den Mann brachte, als es eine ihrer Analysen jemals getan hatte. Aber ihr größter Vorteil war, dass sie ein ausgeprägtes Verständnis für den wichtigsten Motor des Aktienmarktes hatte: die Gier.
Plötzlich, eines Tages, wurde sie schwanger. Und zu ihrer Überraschung bemerkte sie, dass sie an Abtreibung dachte. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie ehrlich der Meinung gewesen, sich Kinder zu wünschen, auf jeden Fall eins. Acht Monate später kam sie mit Amalie nieder. Sie war von einem Glück erfüllt, das sofort jede Erinnerung an den Gedanken einer möglichen Abtreibung vertrieb. Zwei Wochen später kam Amalie mit hohem Fieber ins Krankenhaus. Ragnhild bemerkte, wie besorgt die Ärzte waren, aber sie konnten ihr nicht sagen, was der Kleinen fehlte. In der Nacht erwog Ragnhild, zu Gott zu beten, schob diesen Gedanken jedoch von sich. Am nächsten Abend um dreiundzwanzig Uhr starb Amalie an einer Lungenentzündung. Ragnhild schloss sich ein und weinte vier Tage ohne Unterbrechung.
»Cystische Fibrose« sagte ihr der Arzt im Einzelzimmer. »Diese Krankheit ist genetisch bedingt, das bedeutet, dass Sie oder Ihr Mann Träger sind. Wissen Sie, ob jemand in Ihrer oder seiner Familie so etwas hatte? Diese Krankheit kann sich unter anderem darin äußern, dass jemand häufig unter Asthma oder einer verwandten Krankheit leidet.«
»Nein«, antwortete Ragnhild. »Und ich verlasse mich darauf, dass Sie sich Ihrer Schweigepflicht bewusst sind.«
Die Trauer wurde professionell aufgearbeitet. Nach ein paar Monaten konnte sie wieder mit anderen Menschen sprechen. Als derSommer kam, reisten sie zu Gilstrups Hütte an der schwedischen Westküste und versuchten, ein neues Baby zu zeugen. Doch eines Abends fand Mads Gilstrup seine Frau weinend vor dem Spiegel im Schlafzimmer. Sie sagte, das sei die Strafe dafür gewesen, dass sie an eine
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