Der Erl�ser
begonnen, sich um eine anderePerson außerhalb ihrer selbst zu bemühen. So etwas hatte sie seit Amalie nicht mehr gespürt. Oder seit Johannes.
Das Ganze begann mit einem Plan. Ihre Vermögenswerte waren aufgrund von Mads’ unglücklichen Entscheidungen weiter in den Keller gegangen, so dass drastische Maßnahmen angezeigt waren. Dabei reichte es nun nicht mehr, die Aktiva mit geringerem Risiko anzulegen, denn mittlerweile waren Schulden entstanden, die beglichen werden mussten. Kurz gesagt, sie brauchten einen finanziellen Coup. Ihr Schwiegervater hatte die Idee gehabt. Und was er vorhatte, roch wirklich nach einem Coup, wenn nicht sogar nach Diebstahl. Wobei es nicht darum ging, das Geld von wohlbewachten Banken zu stehlen, sondern ganz einfach von alten Damen. Die alte Dame war die Heilsarmee. Ragnhild hatte das Immobilienportfolio der Armee durchleuchtet. Es war beeindruckend. Nicht weil die Mietshäuser sonderlich gut in Schuss gewesen wären, sondern wegen ihres Potenzials und ihrer Lage. In erster Linie galt dies für die zentralen Häuser in Oslo, ganz besonders im Stadtteil Majorstua. Die Bilanz der Heilsarmee hatte ihr mindestens zwei Dinge verraten: Die Armee brauchte Geld. Und die Immobilien wurden deutlich unter Wert eingeschätzt. Vermutlich waren sie sich dort nicht im Klaren darüber, auf welchen Werten sie saßen, Ragnhild zweifelte stark daran, dass die Entscheidungsträger der Heilsarmee betriebswirtschaftlich wirklich etwas auf dem Kasten hatten. Außerdem war offenbar gerade der beste Zeitpunkt für einen Kauf gekommen, denn der Immobilienmarkt war gemeinsam mit dem Aktienmarkt in die Knie gegangen, während andere Leitindikatoren wieder zu steigen begannen.
Ein Telefonat später hatte sie bereits ein Treffen verabredet.
An einem schönen Frühlingstag fuhr sie mit ihrem Wagen vor dem Hauptquartier der Heilsarmee vor.
Der Kommandeur, David Eckhoff, empfing sie, und sie durchschaute seine Jovialität innerhalb von Sekunden. Dahinter steckte die Sorte dominanter Anführer, mit der sie so gut umzugehen wusste. Sie war also recht optimistisch. Er führte sie in ein Sitzungszimmer mit Waffeln und außergewöhnlich schlechtem Kaffee. Dort stellte man ihr drei weitere Mitarbeiter vor, einen älteren und zwei jüngere. Der ältere war der Verwaltungschef, ein Oberstleutnant,der bald in Pension gehen sollte. Einer der jüngeren war Rikard Nilsen, ein verkrampfter junger Mann, der auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit Mads Gilstrup hatte. Aber diese Ähnlichkeit war nichts im Vergleich zu dem schockierenden Déjà-vu, das sie durchlebte, als sie den anderen jungen Mann begrüßte, der sich als Jon Karlsen vorstellte. Es war nicht seine große, gebeugte Gestalt, nicht das offene, jungenhafte Gesicht und auch nicht seine warme Stimme, sondern sein Blick. Er sah sie direkt an. In sie hinein. Wie er es getan hatte. Johannes.
Als der Verwaltungschef zu Beginn der Sitzung erläuterte, dass der Umsatz der norwegischen Heilsarmee knapp unter einer Milliarde Kronen lag, wovon ein beträchtlicher Teil aus den Mieten der 230 Immobilien stammte, über die sie im ganzen Land verfügten, saß sie in einer Art Trance da und versuchte, diesen jungen Mann nicht pausenlos anzustarren, seine Haare, seine ruhig auf dem Tisch liegenden Hände. Seine Schultern, die die schwarze Uniform noch nicht ausfüllten. Eine Uniform, mit der Ragnhild von Kind an alte Männer und Frauen verband, die lächelnd mehrstimmige Lieder sangen, obwohl sie nicht an ein Leben vor dem Tod glaubten. Sie hatte wohl gedacht – ohne wirklich gedacht zu haben –, dass die Heilsarmee eine Zufluchtsstätte für all jene war, die sonst nirgendwo hindurften: die Einfältigen, die sozial Isolierten und die weniger Klugen. Jene Menschen, mit denen niemand spielen wollte, die aber dennoch kapiert hatten, dass die Armee eine Gemeinschaft darstellte, deren Anforderungen sogar sie erfüllen konnten: Sie mussten einfach nur die zweite Stimme singen.
Als der Verwaltungschef fertig war, bedankte sich Ragnhild, öffnete die Mappe, die sie mitgebracht hatte, und reichte dem Kommandeur ein einzelnes A4-Blatt.
»Das ist unser Angebot«, sagte sie. »Daraus geht hervor, an welchen Immobilien wir interessiert sind.«
»Danke«, sagte der Kommandeur und sah sich das Dokument an.
Ragnhild versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten, erkannte aber, dass er wenig Aussagekraft hatte. Eine Lesebrille lag unangetastet vor ihm auf dem Tisch.
»Unsere Fachleute werden
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