Der Erl�ser
warmen Händen, Johannes mit der weichen Stimme und dem Blick, der sah, was sie dachte, noch ehe sie es selbst wusste. Der Bauerntölpel Johannes, der nie in die Welt hinausgehen würde. Nach Johannes hatte sich alles verändert. Sie hatte sich verändert.
Auf Aron Schüsters Privatschule wurde sie die Albträume los, die Schuldgefühle und den Fischgestank, und sie lernte all das, was junge Mädchen wissen müssen, um sich einen Ehemann von gleichem oder höherem Stand zu sichern. Und mit ihrem ererbten Überlebensinstinkt, der es ihr erlaubt hatte, auf dieser kargen Halbinsel in Norwegen zu überleben, begrub sie langsam, aber sicher die Ragnhild, die Johannes so gut durchschaut hatte. Sie wurde zu der Ragnhild, die andauernd unterwegs war, die sich ihre eigene Welt erschuf und sich von niemand aufhalten ließ, am wenigsten von ihr überlegenen französischen Mädchen aus der Oberschicht und von verwöhnten dänischen Fräuleins, die in den Ecken tuschelten, dass solche Mädchen wie Ragnhild trotz aller Bemühungen immer nur provinziell und vulgär bleiben würden.
Ihre kleine Rache bestand darin, Herrn Brehme zu verführen, den jungen Deutschlehrer, in den sie alle verschossen waren. Die Lehrer wohnten in einem Gebäude vis-à-vis vom Wohnheim der Schülerinnen. Sie lief ganz einfach über den gepflasterten Hof und klopfte an die Tür seiner kleinen Wohnung. Vier Mal besuchte sie ihn. Und vier Mal stolzierte sie mitten in der Nacht mit laut klappernden Absätzen über den Platz zurück, und das Echo ihrer Schritte wurde von beiden Seiten des Hofes zurückgeworfen.
Gerüchte begannen zu kursieren, und sie tat nichts oder wenig dagegen. Als die Nachricht kam, Herr Brehme habe überraschend gekündigt und sei in aller Eile zu einer anderen Stelle nach Zürich abgereist, grinste Ragnhild triumphierend in die trauernden Jungmädchengesichter ihrer Klasse.
Nach ihrem letzten Schuljahr in der Schweiz kehrte Ragnhildnach Hause zurück. Endlich daheim, dachte sie. Doch dann war wieder Johannes’ Blick dagewesen. Im Silber des Fjords, in den Schatten des unglaublich grünen Waldes, hinter den schwarz glänzenden Fenstern des Gebetshauses oder in den Autos, die vorbeirauschten und eine Wolke aus Staub hinter sich her zogen, der zwischen den Zähnen knirschte und bitter schmeckte. Und als der Brief aus Chicago kam und ihr der Platz an der Uni angeboten wurde, Business Administration, drei Jahre Bachelor, fünf Jahre Master, ging sie zu ihrem Vater und bat ihn, das geforderte Schuldgeld sofort zu überweisen.
Es war eine Erleichterung fortzukommen. Eine Erleichterung, wieder die neue Ragnhild zu sein. Sie freute sich auf das Vergessen, doch dazu brauchte sie ein Projekt, ein Ziel. In Chicago fand sie dieses Ziel: Mads Gilstrup.
Sie dachte, es würde einfach werden, schließlich hatte sie sowohl die theoretischen als auch die praktischen Grundlagen, um einen Mann aus der Oberschicht zu verführen. Und sie war hübsch. Das hatte nicht nur Johannes gesagt. Am meisten fielen ihre Augen auf. Sie war mit den hellblauen Augen ihrer Mutter gesegnet, umgeben von einer ungewöhnlich reinen, weißen Sclera, die – wie wissenschaftlich bewiesen war – das andere Geschlecht anzog, weil sie eine solide Gesundheit und intaktes Erbmaterial signalisierte. Aus diesem Grund trug Ragnhild nur selten Sonnenbrillen. Außer sie legte es gerade auf den Effekt an, diese in einem besonders geeigneten Moment abzusetzen.
Einige meinten, sie habe Ähnlichkeit mit Nicole Kidman. Sie verstand, was sie meinten. Hübsch auf eine straffe, strenge Art. Vielleicht war das der Grund. Die Strenge. Denn wenn sie auf den Fluren oder in der Mensa versuchte, Kontakt zu Mads Gilstrup zu bekommen, benahm er sich wie ein verschrecktes Wildpferd, wich ihrem Blick aus, warf nervös die Haare aus der Stirn und rettete sich auf sicheres Terrain.
So musste sie zu guter Letzt alles auf eine Karte setzen.
Am Abend vor einem der vielen blöden jährlichen und angeblich traditionellen Feste gab Ragnhild ihrer Zimmergenossin Geld für ein paar neue Schuhe und ein Hotelzimmer in der Stadt und verbrachte drei Stunden vor dem Spiegel. Dann tauchte sie ausnahmsweiseeinmal früh auf dem Fest auf. Zum einen, weil sie wusste, dass Mads Gilstrup immer zu den ersten Gästen auf solchen Feiern zählte, und zum anderen, weil sie nicht wollte, dass ihr eine Konkurrentin zuvorkam.
Er stotterte und stammelte und wagte kaum, ihr in die Augen zu blicken, trotz ihrer hellblauen Iris
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