Der Erl�ser
kleine Gehirnerschütterung. Ich liege im Krankenhaus.«
»Welches Krankenhaus? Welche Station?«
Jon stutzte. »Die meisten würden wohl fragen, wie ich mir diese Gehirnerschütterung geholt habe.«
»Du weißt, wie ich es hasse, wenn ich nicht weiß, wo du bist.«
Jon sah es schon vor seinem inneren Auge, wie Ragnhild am nächsten Tag zur Besuchszeit mit einem riesigen Strauß Rosen auftauchte. Und Theas fragenden Blick, erst zu ihr und dann zu ihm.
»Ich hör die Krankenschwester kommen«, flüsterte er. »Ich muss jetzt auflegen.«
Er drückte den roten Knopf und starrte an die Decke. Sie hatte recht. Es war dunkel, aber er war derjenige, der Angst hatte.
*
Ragnhild Gilstrup stand mit geschlossenen Augen am Fenster. Dann sah sie auf die Uhr. Mads hatte gesagt, er hätte noch jede Menge Arbeit mit der Vorbereitung der Vorstandssitzung, es würde also spät werden. Wie so oft in letzter Zeit. Früher hatte er immer eine Uhrzeit genannt und war dann pünktlich gekommen, manchmal sogar etwas früher. Nicht dass sie sich wünschte, er solle früher kommen, aber es war ein bisschen seltsam. Auffällig. Ebenso seltsam wie die Tatsache, dass bei der letzten Telefonrechnung eine Verbindungsübersicht dabei gewesen war, die sie nie angefordert hatte. Aber sie hatte eben dort gelegen, fünf A4-Blätter mit viel zu viel Informationen. Sie sollte Jon nicht mehr anrufen, aber sie konnte es nicht bleiben lassen. Denn er hatte diesen Blick. Den Blick von Johannes. Nicht betont nett, klug oder mild oder sonst irgendwie auffällig, aber eben ein Blick, der ihre Gedanken schon las, bevor sie sie gedacht hatte. Der sie als die sah, die sie war. Und sie trotzdem mochte.
Sie öffnete die Augen wieder und starrte auf das 6000 Quadratmeter große Naturgrundstück. Die Aussicht erinnerte sie an das Internatin der Schweiz. Der Schnee leuchtete durch das große Schlafzimmerfenster und warf ein blaues Licht auf Decke und Wände.
Sie hatte darauf bestanden, hier zu bauen, hoch über der Stadt, ja im Grunde mitten im Wald. Das würde ihr vielleicht helfen, sich weniger eingesperrt und unfrei zu fühlen, hatte sie gesagt. Und ihr Mann, Mads Gilstrup, der geglaubt hatte, sie meine die Unfreiheit der Stadt, hatte mit großem Elan einen Teil seines Vermögens in diesen Bau gesteckt. Zwanzig Millionen hatte die Herrlichkeit gekostet, doch als sie einzogen, kam es Ragnhild so vor, als zöge sie aus der Zelle in den Gefängnishof. Sonne, Luft und Platz. Aber immer noch eingesperrt. Genau wie im Internat.
Manches Mal – wie zum Beispiel an diesem Abend – fragte sie sich, wie sie hier gelandet war. Wenn sie die äußeren Umstände zusammenzählte, war es ganz einfach: Mads Gilstrup war der Erbe eines großen Osloer Vermögens. Sie hatte ihn während des Studiums in Chicago, Illinois, USA, kennengelernt, wo sie beide Wirtschaft studierten. An mittelmäßigen Universitäten zwar, aber die waren immer noch renommierter als die guten Lehranstalten in Norwegen und überdies amüsanter. Beide stammten aus wohlhabenden Familien, wobei seine die reichere war. Und während er zu einer alteingesessenen, von jeher finanzkräftigen Reederfamilie gehörte, waren sie in ihrer Familie einfache Bauern gewesen, und ihr Geld roch noch immer nach Druckerschwärze und Aquakultur. Ihr Leben war geprägt gewesen von Landwirtschaftssubventionen und verletztem Stolz, bis eines Tages ihr Vater und sein Bruder ihre Traktoren verkauften und auf eine kleine Fischzucht im Fjord setzten: wenige Meter vor dem Wohnzimmerfenster, an der Küste einer windgepeitschten Halbinsel in Vest Agder. Der Zeitpunkt war perfekt, die Konkurrenz minimal, die Kilopreise astronomisch. Im Laufe von nur vier fetten Jahren wurden sie zu vielfachen Millionären. Das Haus auf der Halbinsel wurde abgerissen und durch ein Märchenschloss ersetzt, das größer als die Scheune war, acht Erker und eine Doppelgarage hatte.
Ragnhild war gerade sechzehn, als ihre Mutter sie von der einen Einöde in die andere schickte: Aron Schüsters Privatschule für Mädchen lag neunhundert Meter über dem Meeresspiegel in einem abgelegenen Schweizer Städtchen mit sechs Kirchen und einer Bierstube.Als Begründung gab sie an, dass Ragnhild Französisch lernen sollte, Deutsch und Kunstgeschichte, Fächer, die man für passend erachtete, sollte der Kilopreis für Fisch weitere Rekordhöhen erreichen.
Aber der eigentliche Grund für die Ausweisung war natürlich ihr Geliebter, Johannes. Johannes mit den
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