Der erschoepfte Mensch
bestimmten göttlichen Bildern. Bei der Mumifizierung wurden die Lungen in ein affenförmiges Gefäß getan, den Behälter für die Gedärme schmückte ein Falkenkopf, den für den Magen ein Schakalkopf, und auf jenem für die Leber war ein Menschenkopf zu sehen.« 191 Als Lebensträger wurden im alten Ägypten gelbe und schwarze Galle, Blut und Schleim vermutet und in Analogie nicht nur zu den Elementen – Feuer, Erde, Luft und Wasser – gesetzt, sondern ebenso zu den Himmelsrichtungen – Süden, Norden, Osten und Westen –, zu Jahreszeiten – Sommer, Herbst, Frühling und Winter –, zu Farben – gelb, schwarz, rot und weiß – und in der Folge auch zu den nach diesen »Säften« benannten Charaktertypen: Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker. Heute finden wir die Ausläufer dieses antik-mittelalterlichen Denkens noch in der Astrologie, und diese verbindet der Arzt und Fachbuchautor Rüdiger Dahlke mit Hilfe des »Senkrechten Weltbilds« zu der von ihm so bezeichneten »Archetypischen Medizin«, während die Präventivpsychologin Anneliese Fuchs diese Kategorisierung als Hilfe, einander besser zu verstehen, interpretiert.
Nach den modernen psychiatrischen Namensgebungen könnte man den zornentflammten, gewaltbereiten, »feurigen« Choleriker (gelbe Galle) unter vielen Borderline-Patienten finden und den kraftlos traurigen »erdschweren« Melancholiker (schwarze Galle) den depressiven Krankheitsbildern zuordnen; der phantasievolle Höhenflieger Sanguiniker (Blut) liefe dann Gefahr, dass ihm oder ihr manischer Verlust der Realitätssicht unterstellt wird, während der Phlegmatiker (Schleim) als »stilles Wasser« sich manchmal dem Vorwurf der Fühllosigkeit, des autistischen Rückzugs, eventuell sogar der Asozialität ausgesetzt sehen wird. Solche Bewertungen sind nicht geeignet, die Stimmung zu heben; deren Wahrnehmung und Veränderung ist aber der erste Schritt zur Salutogenese – zur Hebung des verschütt gegangenen Kraftpotenzials.
Solche Bewertungen
wahrzunehmen ist der erste Schritt
zur Salutogenese.
STIMMUNG UND EINSTIMMUNG
Gegensatzpaare bieten eine »duale« Ergänzungsmöglichkeit; wird diese konflikthaft gestaltet, spricht man von Polarität. Viele Menschen meinen, rein durch Balance-Übungen wie etwa Achterschleifen-Drehen oder -Schwingen aus der leib-seelischen Schieflage zu kommen. Das grenzt an Selbstüberschätzung, weil solche Rezepturen nur kurzfristig autosuggestiv zu Gleichgewichtsgefühlen verhelfen, nicht aber die Ursachen beseitigen. Dennoch steigt die Nachfrage nach solchen Rezepten; sie dienen primär den Ratgeberseiten und -sendungen in Print- und audiovisuellen Medien, aber auch Seminaranbietern, die auf den Fitness- und Wellness- und Mindness-Trend aufspringen und ihre Verhaltensanleitungen verkaufen wollen, die aber, wenn sie reife Persönlichkeiten sind und nicht nur Imitationen von solchen, mit ihrer Energie tatsächlich langfristig »nähren« können.
Dass einmalige Autosuggestion nur kurzfristig gelingt, solange sie nicht durch eine Gegensuggestion neutralisiert wird, wissen alle, die schnell wieder in den alten Trott verfallen sind. Denn auch wenn jedes Verhalten – und damit auch dieses, die eigenen »humores« zu erkennen und auszudrücken – eingeübt werden muss, gibt es Einflüsse außerhalb der eigenen potenziellen Wirkmächtigkeit, und es gibt Abwehr.
So bezieht sich James Hillman auf den nach Amerika ausgewanderten österreichischen Tiefenpsychoanalytiker Alfred Adler (1870–1937), den »Erfinder« des Minderwertigkeitskomplexes, wenn er schreibt: »Die Seele sitzt dort, wo wir schwach sind, am Ort des geringsten Widerstandes. Genau dort, am Ort des geringsten Widerstandes, sammelt sich allerdings der Widerstand, erwächst eine erhöhte Verteidigungsbereitschaft. Wo wir am empfindsamsten sind, sind wir am starrköpfigsten, wo wir am exponiertesten sind, unternehmen wir die größten Anstrengungen zur Tarnung.« 192 Und er führt aus: »Unsere Minderwertigkeit schlägt sich in unserem Denkstil nieder. Minderwertigkeitsgefühle veranlassen uns zur Konstruktion von Denkgebäuden, die uns vor dem Überhandnehmen dieser Gefühle schützen sollen. Diese Gedankenkonstrukte wirken als Leitfiktionen, als die Phantasien, die unsere Wahrnehmung der Welt bestimmen. Die elementarste dieser neurotischen Schutzvorrichtungen, auf die vielleicht alle anderen zurückgeführt werden können, ist die von Adler als ›… antithetische …, nach dem Prinzip des
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