Der erschoepfte Mensch
Gegensatzes arbeitende Apperzeptionsweise‹ bezeichnete: Unser Denken errichtet polare Gegensätze – stark/schwach, oben/unten, männlich/weiblich –, an denen sich unser Erleben orientiert. Wir ermöglichen uns so eine scharfe Auftrennung der Welt und schaffen damit Möglichkeiten zur Machtausübung, zu kraftvollem Tun und gewaltsamem Eingreifen, was uns davor bewahrt, uns unfähig und ohnmächtig zu fühlen.« 193 Zu diesen Abwehrstrategien gehört auch die Du-Anklage gegen eine Person, »die Gesellschaft« oder »die Umstände«. Damit bleibt die Spaltung aufrecht und man selbst passiv; weil man sich nicht machtvoll fühlt, spürt, weiß oder auch phantasiert, wird nicht nach innovativen Möglichkeiten des Umgangs mit den Widrigkeiten des Lebens gesucht. Dabei wäre dies bereits die nötige Herz- und Hirnöffnung, damit man wieder in den Zustand der Kraft gelangen kann.
Es gibt Einflüsse außerhalb der
eigenen potenziellen Wirkmächtigkeit,
und es gibt Abwehr.
Als ich ein junges Mädchen war, erzählte mir eine nur fünfzehn Jahre ältere Frau, die ich zur Wahltante erkoren hatte, wie sie sich bei der Geburt ihres ersten Kindes voll Genuss in jede Wehe, egal wie schmerzhaft sie war, direkt »hineingestürzt« hätte, voll der Freude, dass sie jetzt etwas zur Welt bringen könnte. Diese Sichtweise war für mich vollkommen neu – vor allem gegenüber dem damals üblichen, nach bewunderndem Mitleid heischenden Gejammer von Plagen und Pein. Dass ich heute noch daran denke, zeigt, wie sehr mich diese Form von Akzeptanz der Naturmacht beeindruckt hat.
Wenn man die Dualität oder Polarität zur Quadrinität erweitert, wie sie C. G. Jung offenkundig gemacht hat, verändert sich die »Schusslinie« mit ihren beiden Endpunkten zu einem viergeteilten Kreis mit einem Mittelpunkt. Das ist Ganzheit – und nicht nur Bereinigung einer Schräglage.
Ebenso kann man mit den »Vier Temperamenten« verfahren: Man kann sie in Harmonie bringen, indem man darauf achtet, wie konkret man sie verkörpert. Statt sich »nur« cholerisch zu ärgern oder gar von Hass bestimmen zu lassen, kann man auch ein Quäntchen melancholische Trauer über die auslösenden Gegebenheiten streuen, dazu eine Portion phlegmatischer Bereitschaft, abzuwarten und sich bis zu einem besseren Zeitpunkt des Reagierens in Geduld zu üben dazumischen und alles mit heiterer Selbstpersiflage umrahmen. Man muss nur aufhören, die eigenen Ziele – vor allem Bekräftigung der eigenen Wichtigkeit – erkämpfen zu wollen.
Man kann sich auch über die eigenen Schwächen amüsieren – und sie und sich in dieser Ganzheit, zu der eben auch die Schattenseiten gehören, liebevoll annehmen.
Meine Mutter hatte in der Küche ein fettschwadenverdunkeltes Bild mit einem Spruch von Rabindranath Tagore hängen:
»Ich schlief und träumte,
Das Leben wäre Freude.
Ich erwachte und sah:
Das Leben war Pflicht.
Ich handelte und siehe:
Die Pflicht ward Freude.«
Sie kochte nicht gerne. Ich auch nicht …
Dass Lin Yutang Naturgenuss für eine Kunst hält, die auch von Stimmung und Persönlichkeit abhänge, wurde bereits erwähnt. Er betont, dass ein musischer Mensch dieses sein Temperament auf Schritt und Tritt verrät, und bringt dafür etliche Beispiele, wie das Leben mit Zwei- oder Drei-Zeilen-Gedichten bereichert werden kann. 194 Oder mit »Dramoletten«. So nenne ich eine Technik, zu der ich von einer Übung bei Barbara Sher angeregt wurde: Sie schreibt, man solle in die Rolle des Kritikers schlüpfen und aus dessen Position heraus dessen Sichtweise und Motive beschreiben. 195 Als ich dies aus aktuellem Anlass ausprobierte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, meine Position im Dialog dazuzustellen – und die Muse küsste mich und ich schrieb und schrieb, geriet in den Flow, mein Herz ging auf und es entstand ein humorvoller Sketch, in dem mein Alter Ego immer witziger auf die rigiden Abwehrsätze meines Kontrahenten parierte – lieber Johann Nepomuk Nestroy schau herunter!
Seit dieser Erfahrung empfehle ich nicht mehr, wie in Beraterkreisen üblich, sich Frust in Briefform von der Seele zu schreiben und dann dem Papierkorb zu überantworten, sondern das dialogische Prinzip in dieser Dramolettform anzuwenden, und zwar nicht nur auf ernsthafte, sondern auch auf heitere Weise.
WEISHEIT LÄCHELNDEN LEBENS
»Jedesmal, wenn wir lachen, drücken wir die dialektische oder paradoxe Wahrheit unseres Daseins aus«, weiß der Philosoph und Theologe Matthew Fox. »Das
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