Der erschoepfte Mensch
betrachten die andere Person als eine Art Automat zur Selbstbedienung, aus dem die Ware Sex bezogen wird. Wenn der Automat streikt oder leer ist, egal, aus welchen Gründen, wird höchstens noch einmal kurz daran gerüttelt, dann aber flugs zu einem Neumodell gewechselt.
Der »Adrenalin-Junkie« erwartet den schnellen Energieschub und benützt dafür das Verhaltensrepertoire, das er oder sie sich aus den audiovisuellen Medien abgeschaut hat. Orientierte man(n) sich früher an Tieren, liefern heute Pornofilme die Vor-Bilder. Das Niveau ist das gleiche: Stammhirn statt Großhirn, schnelle und wortlose körperliche Aktion statt Gefühlsausdruck mit Hilfe der Stimme und zelebriertem Riechen, Schmecken und Spüren.
Wenn man den geliebten Menschen »einatmet«, nimmt man ihn oder sie in sich auf. Dann ist man nicht mehr im Zustand der Entfremdung von der eigenen Reaktion wie auch der der anderen Person, sondern man »verinnerlicht« einander, wird »ein Fleisch«, und: man kann gar nicht anders als treu zu sein (vorausgesetzt, man verletzt einander nicht so massiv, dass die Notwendigkeit zur leib-seelisch-geistigen Selbsterhaltung die Verbundenheit »tötet«, also »der Tod scheidet«).
Unter dem Primat eines Zeitgeists, der das Prinzip der Obsoleszenz auch auf Intimbeziehungen ausweitet – man denke nur an den quasi als Warnung vor Verbürgerlichung stereotyp gepredigten Slogan der 1968er Studentenrevolution: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« – werden Menschen, denen Treue wichtiger ist als der kurzfristige Anreiz des Neuen, oft als altmodisch verachtet.
Nachzudenken und zu erkennen, dass das schnelle Habenwollen von etwas Neuem, Unbekanntem einerseits von denjenigen beworben wird, die davon Profit erwarten, andererseits von denjenigen unterstützt wird, die die Heilmittel für allfällige Negativfolgen verkaufen, könnte Angst auslösen; deswegen wird ja auch kritisches Denken vermieden, frei nach dem Motto »Aus Schaden wird man klug«: Man gibt der Schadensvermeidung den Vorrang vor der Klugheit, und das merkt man leider nur zu deutlich.
Aber muss man immer erst im Nachhinein klug werden – so wie Epimetheus, der Bruder des »pro«, nämlich vorausdenkenden Prometheus, der unbedacht die Büchse der von den Göttern zur Strafe gesandten Pandora öffnete und damit alle Schlechtigkeiten in die Welt hinaus entließ, und der dieses Füllhorn des Unheils viel zu spät wieder schloss, sodass nur die Hoffnung darin gefangen blieb?
Nur weil Menschen, die nicht den Mut wagten, auch schwierige Partnerbeziehungen in Wohlwollen für die andere Person, wie verletzend diese auch agieren mag, »am Leben« zu erhalten, behaupten, nach einiger Zeit gehe eben die Kraft der sexuellen Anziehung verloren, heißt das noch lange nicht, dass es nicht gegenteilige Erfahrungen gibt!
LUSTVERLUST
»Auf den Appetit kommt es allein an, nicht auf den gedeckten Tisch«, betont der chinesisch-amerikanische Literaturprofessor Lin Yutang. 184 In meiner Systemischen Sexualtherapieausbildung hat unsere Lehrtherapeutin mehrfach darauf hingewiesen, dass es hilfreich sei, mit Metaphern – Gleichnissen – von Hunger und vom Essen zu arbeiten, um die Mechanismen der sexuellen Machtspiele einfach und verständlich zu verdeutlichen.
Die Diagnose »Appetenzverlust« oder »Mangelndes Lust-syndrom« tauchte zunehmend in den späten 1980er Jahren auf: Da kamen Einzelpersonen oder auch Paare in Beratung oder Therapie und meinten, bei ihnen stimme etwas nicht, sie hätten keine Lust mehr aufeinander. Eine Kollegin in der sogenannten 1. Wiener Sexualberatungsstelle 185 erzielte damals eine ungeplante »Spontanheilung« einer solchen Paarbeziehung einfach durch die Frage: »Wie kommen Sie darauf, dass Sie immer Lust haben sollten?« In der nächsten Sitzung berichtete das nunmehr von der »Pflicht« befreite Paar glücklich, sie hätten jetzt »Lust in Hülle und Fülle«.
Etwas Ähnliches erlebte ich in der Therapie mit einem Mann, Vertreter von Beruf, der sich in jeder tschechischen Stadt eine Freundin angelacht hatte, bei der er auf seinen Reisen übernachten und somit Kosten sparen konnte – allerdings unter der unausgesprochenen Aufforderung, leidenschaftlichen Sex zu bieten. Sein »Meister Iste« streikte. Erst als er sich durchrang, den Frauen ehrlich zu gestehen, dass er sich freue, liebevoll aufgenommen und auch kulinarisch und sozial versorgt zu werden, aber eigentlich nicht als Liebhaber komme, sondern als
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